Wäre Emmanuel Macrons Präsidentschaft eine Politikserie, ginge es nach dem ersten Drittel der zweiten Staffel jetzt darum, wie man die Zuschauer bei der Stange hält und wieder ordentlich Spannung aufbaut. Während eines wochenlangen Teasings hat der Franzose ein „Rendez-Vous mit der Nation“ versprochen und die „zivile Wiederbewaffnung“ der Gesellschaft angekündigt. Wie ein guter Drehbuchschreiber hat er das Casting verändert, Figuren sterben lassen, neue Minister dazu geholt und sich dafür gerühmt, die „kleinste und jüngste Regierung seit der V. Republik“ eingesetzt zu haben. Mit einer Marathon-Pressekonferenz zur besten Sendezeit, die wie zu Zeiten des Staatsfernsehens von den beiden größten TV-Anstalten und allen vier Nachrichtensendern live übertragen wurde, hat Macron am Dienstagabend ein „stärkeres, gerechteres Frankreich“ beschworen und sein Leitmotiv „Kühnheit, Aktion, Schlagkraft“ unermüdlich wiederholt.

Nach der Nominierung des 34 Jahren alten Gabriel Attals zum Premierminister und den Abwerbungen ehemaliger Politikstars der bürgerlichen Mitte hat Frankreichs Präsident damit seine konservative Wende amtlich gemacht. Unter den vergoldeten Putten, Füllhörnern und Kronleuchtern des Festsaales des Elysée-Palastes entdeckten die Franzosen einen Präsidenten, der wieder Wahlkampf macht: Macron kann zwar bei den Wahlen 2027 nicht wieder antreten, aber nach einem holprigen Start seiner zweiten Amtszeit will er gezielt ein neues Kapitel aufschlagen und eine schmachvolle Niederlage seiner Partei bei den Europawahlen im Juni verhindern. 

Vergessen die Rentenrefrom

Vor allem will er vermeiden, dass er in drei Jahren der Rechtspopulistin Marine Le Pen das Amt übergeben muss. Als eine „Partei der Lügen“, „der billigen Wut“ und der „kollektiven Verarmung“ bezeichnete er Le Pens Rassemblement National (RN). Sie wolle einen Defacto-Frexit, ohne ihn so zu nennen, und habe ihr wirtschaftspolitisches Programm bei den Linksextremen geklaut, so Macron. Er werde sie daher nicht mit der Moralkeule, sondern bis zur „letzten Viertelstunde“ seiner Amtszeit mit Argumenten bekämpfen. Verantwortung für die Erstarkung des RN wies er zurück. Überall in der Welt seien die Rechtspopulisten im Vormarsch, „sogar in Deutschland“, wo man das für unmöglich gehalten habe. 

Vergessen also die gegen heftigen Widerstand durchgezogene Rentenreform; vergessen auch die Verschärfung des Einwanderungsgesetzes, mit der er seine linken Wähler vor den Kopf gestoßen hat. Macron will die letzten 40 Monate im Amt ganz offensichtlich nicht als „Lame Duck“, also lahme Ente, verbringen und am liebsten zu seinen schwungvollen Anfängen zurückkehren. Von Energiewende über Elternzeit, von Vollbeschäftigung, Steuererleichterungen über die Vorwürfe gegen Gérard Depardieu bis hin zu einem „zweiten Akt“ der Liberalisierung des Arbeitsmarktes hat Macron kein Thema ausgelassen. Wer allerdings politische Paukenschläge erwartet hatte, wurde enttäuscht: Es ist ein bunter Strauß von Zielen und Maßnahmen, für die er am Dienstag vor Millionen von Fernsehzuschauern geworben hat. 

Die Jugend ist schuld

Im Zentrum der Politik des kinderlosen Präsidenten steht die Schule. Autorität und Ordnung sind die Schlagwörter, die er dabei benutzte. Auch Werte wie Respekt, Familie, Bürgersinn, Arbeiten und Meriten beschwor er. Mit der Verdopplung der Stunden für Staatsbürgerkunde, einem Experiment zur Schuluniform, dem Erlernen der Marseillaise, der französischen Nationalhymne, in der Grundschule und einem verpflichtenden, einmonatigen Dienst an der Gemeinschaft (Universeller Nationaldienst) will der Franzose ein kollektives, ja nationales Verantwortungsgefühl wecken. Der Gesellschaft seien ihre Traditionen, der Republik ihre Riten abhandengekommen, so Macron, der die „Seele der Nation“ beschwor. Die Klassiker der Literatur müssten wieder gelesen werden. Auch versprach der Präsident, dessen Frau Brigitte als Lehrerin die Theater-AG geleitet hatte, die Einführung von verpflichtendem Theaterunterricht für alle. 

Macron stellte sich hinter seine neue Erziehungsministerin Amélie Oudéa-Castéra, die einen peinlichen Amtsantritt hingelegt hat und von der Opposition zum Rücktritt aufgerufen wurde, nachdem sie bei der Begründung, warum sie ihre drei Söhne auf eine elitäre Privatschule schickt, der Lüge ertappt worden war. 

„Dürfen Russland nicht gewinnen lassen“

Mit dem Plädoyer für die Rückkehr der Autorität reagierte der französische Staatschef auch auf die Jugendaufstände im Juni vergangenes Jahr, die durch den Tod eins 17-Jährigen bei einer Polizeikontrolle ausgelöst worden waren. „Die sozialen Netzwerke haben dabei eine Rolle wie noch nie zuvor gespielt“, konstatierte Macron. Noch im Frühjahr soll eine Kommission von Wissenschaftlern ihre Ergebnisse zum Einfluss von Bildschirmzeit und sozialer Medien auf Kleinkinder und Jugendliche vorlegen, aus denen die Regierung konkrete Konsequenzen ziehen wolle. Es wachse eine Generation heran, die ihre Informationen nur noch aus Blasen beziehen und kein Verhältnis zur Wahrheit entwickele. „Viel Spaß mit einer Generation von Verschwörungstheoretikern“, so Macron. 

„Nostalgisch“, „altmodisch“, „verstaubt“, „old school“, so lauteten viele Kommentare in der französischen Öffentlichkeit nach der Marathonveranstaltung. Die Chefin der französischen Grünen, Marine Tondelier, qualifizierte Macrons Neuanfang als den „reaktionären Diskurs eines Technokraten“. „Das große Rendez-Vous mit der Nation hat sich in eine x-te und endlose Plauderstunde verwandelt“, schrieb Le Pen auf X, ehemals Twitter. 

Für internationale Themen blieb kaum Zeit. Doch nachdem der britische Premierminister Rishi Sunak der Ukraine vergangene Woche Sicherheitsgarantieren gegeben hat, versicherte Macron, im Februar nach Kiew zu reisen und dort die französischen Garantien zu unterzeichnen. Außerdem versprach er weitere Waffenlieferungen, darunter rund 40 Marschflugkörper Scalp (Storm Shadow) und mehre hundert Bomben. In den nächsten Wochen und Monaten stünden „wichtige Entscheidungen“ an: „Wir dürfen Russland nicht gewinnen lassen“, schloss der Franzose, weil die Sicherheit Europas auf dem Spiel stehe. 

Die USA bezeichnete er als großen Alliierten, mit dem er am 6. Juni den 80. Jahrestag der Landung in der Normandie feiern werde. Angesprochen auf eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps sprach Macron lediglich davon, dass die „amerikanischen Demokratie eine Krise durchmacht“. Bereits in seiner Sorbonne-Rede im September 2017 habe er deshalb die Stärkung Europas gefordert.