Nicht morgen, nicht heute. Sofort! Es ist der Ruf von Angehörigen der Geiseln, die nach Gaza verschleppt wurden. „Wir wollen sie zurück! Bitte, bitte bringt sie nach Hause”, flehen sie. Die Familien der Menschen, die von der Terrororganisation Hamas festgehalten werden, sind verzweifelt. „Wir trinken, wir essen, wir schlafen etwas. Aber wir leben nicht. Wir sind in der Hölle”, schreit Zehava Eshel in die Tel Aviver Abendluft.

Zwei Wochen ist es her, dass ihre Enkelin, die 18-jährige Soldatin Roni Eshel, an der Grenze zu Gaza Dienst tat. Seitdem ist sie verschwunden. Die Großmutter trägt ein weißes T-Shirt mit dem Foto eines Teenagers. Daneben steht: Save Roni. „Meine Enkelin, sie ist wunderbar, sie ist großartig. Jetzt ist sie weg. Das darf doch nicht sein.” Die israelische Regierung bestätigte mittlerweile 212 Geiseln, die sich nach den brutalen Attacken der Hamas vom 7. Oktober in Gefangenschaft im Gazastreifen befinden.

Versammelt stehen die Familien auf der Straße hinter dem Tel Aviver Kunstmuseum und umklammern die Plakate mit den Gesichtern ihrer Liebsten, als wollten sie sich an ihnen festhalten. Darauf der Name der vermissten oder gekidnappten Person: Omri Miran, Omer Shem Tov, Karina Ariev, Tal Shoham und viele andere. Die Familien haben auch einen Schabbat-Tisch auf dem „Geiselplatz“ gedeckt. An der Tafel mit mehr als 200 leeren Plätzen befinden sich auch Hochstühle und Trinkfläschchen.

Ein leerer Platz für jede Geisel: Angehörige deckten einen Schabbat-Tisch.
Ein leerer Platz für jede Geisel: Angehörige deckten einen Schabbat-Tisch. © IMAGO / Debbie Hill

Die Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen haben dunkle Ränder unter den Augen, als hätten sie Nächte nicht geschlafen. Sie halten einander an den Händen, nehmen sich immer wieder in den Arm. Wenn jemand zusammenbricht, fangen sie ihn auf. „Womit beschäftigt ihr euch denn?”, ruft Ronis Großmutter in Richtung Regierung. „Kümmert euch endlich um das Wesentliche: die Babys, die Kinder, die Väter und Mütter, die Soldaten und Soldatinnen, die Kranken zurückzubringen. Das ist eure Hauptaufgabe. Nichts anderes.”

„Wäre ein Kind von (Ministerpräsident Benjamin, Anm.) Netanjahu eine Geisel, würde sofort etwas geschehen. Du bist ein Demagoge, ein unfassbarer Demagoge”, richtet sich Eshel gegen den Premier. „Sprich mit dem Roten Kreuz und nicht über eine Bodenoffensive.”

Andere Angehörige pflichten ihr bei. „Es ist nicht logisch, es ergibt keinen Sinn! Alle schweigen nur, wir wissen nichts. Dann hören wir plötzlich, dass zuerst Menschen mit ausländischen Pässen freigelassen werden. Warum?”, fragt der Bruder einer Geisel. „Lama, lama, lama?“, schreit er das hebräische Wort immer wieder.

Sohn braucht dringend Medikamente

Shelly Shem Tov, die Mutter des 21-jährigen Omer Shem Tov, der auf der Party in der Nähe des Kibbuzes Re’im war, ist außer sich vor Sorge. Ihr Sohn brauche dringend Medikamente, sagt sie unter Tränen. Ohne sie könne er nicht atmen. Sie ist eine Mutter, die um das Leben ihres Kindes bangt, jede Minute, jede einzelne Sekunde. „Er braucht die Medikamente sofort”, spricht sie, ruft sie, schreit sie, als sie von einem Angehörigen gestützt wird. “Bitte, Omer braucht sie jetzt. Er kann nicht atmen. Bitte! Jetzt!”

Der Vater von Omri Miran fordert die Regierung und das ganze Volk Israels auf, „dass sie an unserer Seite stehen”. Aber die Familien seien wie in einem dichten Nebel, durch den nichts hindurchdringt. „Niemand gibt uns Antworten.” Miran verlangt zumindest ein Lebenszeichen der Geiseln. Es könne nicht sein, dass humanitäre Hilfe an die Palästinenser fließe, doch nicht einmal bekannt ist, wie viele Geiseln überhaupt am Leben seien. „Ich muss doch wissen, wo mein Sohn ist. Was ist mit ihm geschehen?”

Alle wollen das Licht der Welt auf das Schicksal ihrer Angehörigen lenken. Dafür halten sie Handy-Lichter hoch und singen die israelische Nationalhymne Ha’Tikwa – die Hoffnung. Sie singen aus vollem Hals, einigen bricht immer wieder die Stimme. Doch die Hoffnung, sind sich alle einig, die werden sie nicht aufgeben.