Knapp 500 Kilometer soll die Länge des geheimen Tunnelnetzwerks betragen, das den Gazastreifen im Untergrund durchzieht – zumindest prahlt die Hamas damit. Auch wenn es tatsächlich weniger sein dürfte, sind die Tunnel um ein Vielfaches länger als das Wiener U-Bahn-Netz. Bis zu 30, 40 Meter unter der Erde verlaufen die Stollen, teilweise auf mehreren Ebenen. Manche gerade so groß, dass man sich durchzwängen muss, andere erlauben die Durchfahrt von Autos. In Propagandavideos des Islamischen Dschihad und der Hamas ist zu sehen, wie Kämpfer wie aus dem Nichts auftauchen, um Raketenabschüsse vorzubereiten oder trainieren, wie sie Gegner in die Tunnel verschleppen.

Ursprünglich dienten die Tunnel vor allem Schmugglern, in den letzten Jahren baute die Hamas das System aber für den Kampf gegen Israel aus. Heute befindet sich der Großteil der militärischen Infrastruktur der Terrormiliz unter der Erde, in der „Metro von Gaza“, wie man das System in Israel nennt. „Die Hamas im Gazastreifen, aber auch die Hisbollah im Norden haben diese Tunnelsysteme gebaut, weil sie nicht symmetrisch gegen Israel agieren können“, erklärt Sicherheitsexperte Jeremy Stöhs vom Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS) im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Im konventionellen militärischen Sinn sind die Terrormilizen den israelischen Streitkräften (IDF) unterlegen, deswegen müssen sie strategische Vorteile nutzen und diese – wie mit dem Tunneln – schaffen. Nicht zuletzt wegen der ausgeklügelten Überwachungssysteme Israels wurden militärische Operationen unter die Erde verlegt. Kommandozentralen und Lagerräume können somit quasi unsichtbar und gut geschützt genutzt werden. Lüftungen, Sprechanlagen und sogar Schienensysteme sorgen für effiziente Logistik unter der Erde.

IDF vor Dilemma

Bei der bevorstehenden Bodenoffensive Israels in Gaza stellt das die IDF in mehrerlei Hinsicht vor ein Dilemma. Zum einen befinden sich die Tunnel oft unter zivilen Einrichtungen. Vor knapp einem Jahr wurde ein Tunnel-Eingang unter einer vom UN-Flüchtlingshilfswerk betriebenen Schule entdeckt. Die Gänge verlaufen unter Moscheen, Wohnhäusern und Geschäften. Dass sich diese unterirdische, zweite Verteidigungslinie inmitten von Zivilisten befindet, gehört zum Kalkül der Terrorgruppe. Ein groß angelegter Luftschlag würde immense Kollateralschäden verursachen.

Ein israelischer Soldat leuchtet mit seiner Taschenlampe in einem engen Tunnel in Richtung der Kamera | 2014: Ein israelischer Soldat führt Journalisten durch einen Tunnel, der von militanten Palästinensern genutzt worden sein soll, um über die israelische Grenze zu gelangen
Ein israelischer Soldat leuchtet mit seiner Taschenlampe in einem engen Tunnel in Richtung der Kamera
| 2014: Ein israelischer Soldat führt Journalisten durch einen Tunnel, der von militanten Palästinensern genutzt worden sein soll, um über die israelische Grenze zu gelangen © APA / Jack Guez / Pool

Das Tunnelsystem mache die Offensive für Israel extrem komplex, so Stöhs. „Der Häuserkampf und die dreidimensionale Komponente unter der Erde könnten bei der IDF zu vielen Toten in den eigenen Reihen führen. Es besteht die Gefahr, in Hinterhalte gelockt zu werden, oder, dass Hamas-Truppen plötzlich hinter einem auftauchen. Dazu muss man auf Zivilisten achten.“ Besonders heikel ist der Umstand, dass die aus Israel verschleppten Geisel auch in den Tunneln gefangen gehalten werden könnten.

Zaun untergraben

Die Tunnel-Zugänge befinden sich oft in Häusern. Dass die Hamas-Kämpfer das Gebiet, in dem diese sich befinden und auch, was darunter liegt, gut kennen, während die Israelis auf Geheimdienstinfos angewiesen sind, spielt ihnen zusätzlich in die Hände.

Mit modernsten Methoden versuchen Israels Geheimdienste daher, Tunnel und Grabungsarbeiten zu orten. Bei den jüngsten Attacken hat man dabei versagt, die Angreifer konnten den nach unten verstärkten Grenzzaun nicht nur durchbrechen, sondern auch unbemerkt untergraben, so Stöhs. Um die eigenen Truppen zu schützen, wird die IDF Roboter vorschicken, um das Räumen der Tunnel vorzubereiten. Gelingt das, wird sich für die IDF die Frage auftun, wie man das komplexe System langfristig sichern kann, ohne die eigenen Truppen zu großen Gefahren auszusetzen.