Der Tod von Mahsa Amini, der den Aufstand im Iran ausgelöst hat, jährt sich gerade zum ersten Mal. Als die Proteste im vergangenen Herbst größer und größer wurden, haben Sie sich optimistisch gezeigt, dass das der Anfang des Endes des Regimes ist. Ich nehme an, heute sind Sie nicht mehr ganz so zuversichtlich.

Shoura HASHEMI: Letztes Jahr war ich sehr überzeugt davon, dass diese Demonstrationen einiges ändern werden. Wir in der Diaspora haben damals hinter den Kulissen mitbekommen, dass Angehörige der Revolutionsgarden teilweise schon in die USA auswandern. Offensichtlich war also auch beim Regime die Sorge da, dass das Ganze nicht mehr lange hält. Gleichzeitig habe ich in diesen ersten Monaten eine Haltungsänderung der europäischen Regierungen wahrgenommen. Der französische und der deutsche Präsident trafen sich mit iranischen Oppositionsgruppen und wir hatten alle den Eindruck, dass sich da jetzt erstmals nach 44 Jahren wirklich etwas tut. Mit dem Jahreswechsel hat sich aber alles komplett gewandelt. Als im Dezember die Hinrichtungen von Demonstranten begonnen haben, hat die Bewegung sehr viel an Kraft verloren. Die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, ließ nach. Aber ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass das Regime fallen wird.

Viele Monate war das halbe Land auf der Straße. Und trotzdem hat sich politisch kaum etwas verändert. Warum kommt man trotz dieser Masse nicht gegen die Macht der Mullahs an?

Ich glaube, weil die Revolutionsgarde so aufgerüstet ist – und weil sie auch diese Bereitschaft hat, Gewalt auszuüben. Das war vielleicht das erste Mal, dass man auch im Westen wirklich verstanden hat, wie gewalttätig dieses Regime ist. Der zweite Grund ist, dass die iranische Gesellschaft kollektiv traumatisiert ist. Diejenigen, die jetzt auf der Straße waren und ihr Leben riskiert haben –das war die ganz junge dritte Generation nach der islamischen Revolution 1979. Meine Generation, die quasi in der Mitte liegt, weiß nicht so recht, wie sie damit umgehen soll. Und in der Generation meiner Eltern sind nur ganz wenige auf die Straße gegangen. Die haben tatsächlich sehr viel Angst, das merkt man, selbst wenn man mit jenen spricht, die außerhalb des Iran leben.

Ich erlebe und höre beides. Es gibt diejenigen, die resigniert haben, die Angehörige verloren haben, die selbst im Gefängnis waren. Ich kenne Leute, die inhaftiert waren und das bis heute in keiner Weise verarbeitet haben. Was allen genau passiert ist, weiß ich nicht, aber es wird sehr brutal – auch mental – gefoltert. Dann gibt es aber auch diejenigen, die Kraft daraus geschöpft haben, die bereit sind, wieder auf die Straße zu gehen.

Zu Beginn war ja viel die Rede davon, dass der Protest seine Kraft auch daraus schöpft, dass es keinen Anführer gibt und damit auch kein Gegenüber, das man quasi enthaupten kann. War das nicht auch ein Problem, weil dann niemand da war, der mit dem Regime gewisse Dinge ausverhandeln hätte können?

Diese führungslose Bewegung war am Anfang definitiv ein Vorteil. Der Protest hätte nicht so übergreifend stattfinden können, wenn es eine Person an der Spitze gegeben hätte – denn dann wäre es etwa um die Frage der ethnischen Zugehörigkeit gegangen, die in einem Vielvölkerstaat immer sehr wichtig ist. Aber nach einigen Monaten hätte man es schaffen müssen, eine Oppositionsfigur zu nominieren, und das ist weder im Inland noch im Ausland gelungen.

Aber warum ist das nicht gelungen? Es gibt ja eine etablierte Opposition mit Gesichtern und mit Köpfen.

Die wirklich etablierte Opposition, das sind vor allem Studentenführer. Wenn sie nicht ohnehin schon im Gefängnis saßen, sind diese Menschen sehr schnell verhaftet worden. Und die Auslandsopposition ist zerstritten. Es ist ein ganz großes Problem der Iraner, dass sie sich nicht auf eine pragmatische und vernünftige Opposition einigen können.

Kann es sein, dass diesem Aufstand auch die Bilder gefehlt haben? In den sozialen Medien gab es zwar viel Material, aber in den Zeitungen gab es keine Fotos, im Fernsehen keine Bewegtbilder.

Das Fehlen von Korrespondenten im Land war sicher ein Problem. Ich habe viel mit Journalistinnen und Journalisten zu tun gehabt und für die war die Frage der Verifizierbarkeit von Informationen ein Riesenthema. Deswegen haben ja auch Aktivistinnen wie ich dieses Vakuum gefüllt. Aber unsere Bilder oder Einordnungen hatten natürlich nicht dieselbe Wirkung, als wenn das von einem etablierten Journalisten kommt.

Sie haben sich die Nächte um die Ohren geschlagen, um auf den sozialen Medien Bilder und Beiträge zu sammeln. Da waren auch sehr viele dabei, wo Menschen halb totgeschlagen oder sowohl Frauen wie auch Männer vergewaltigt werden. Was macht das mit einem, wenn man sich damit rund um die Uhr beschäftigt?

Ich glaube, dass das eine Art mentaler Ausnahmezustand gewesen sein muss, in dem ich da drinnen war. Ich kann mir selbst nicht erklären, wie ich das körperlich geschafft habe. Aber es hat auch gleichzeitig diese ganz tiefe Überzeugung in mir geweckt, dass das mein Weg ist, dass ich das machen will. Und ich habe sicher auch Vergangenheitsbewältigung betrieben. Meine ersten Lebensjahre im Iran musste ich versteckt verbringen, ohne dass jemand wissen durfte, dass es mich gibt.

Was wird von dieser Revolution bleiben? Werden jetzt wieder vier, fünf Jahre vergehen, bis wir einen neuen Anlauf sehen?