Mit ernster Miene lässt sich Doktor Tedros in seinem Chefsessel nieder. In einer Tasche seines Anzugs trägt Tedros ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel gegen das Covid-19-Virus. Zuerst blättert der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO durch Papiere, dann legt er los: „Guten Morgen, guten Tag und guten Abend.“ Tedros, der seinen Doktortitel in öffentlicher Gesundheit erwarb, beginnt seine Internet-Reden über die Corona-Pandemie immer mit den gleichen Worten.

Dabei beklagt der Äthiopier regelmäßig „katastrophales moralisches Versagen“, er verlangt „globale Solidarität“ oder er beschwört „unsere gemeinsame Zukunft“. Dabei geht es auch um die Zukunft der WHO und ihres gewieften Chefs selbst, der mit vollem Namen Tedros Adhanom Ghebreyesus heißt. Denn kaum ein anderer Chef einer internationalen Organisation steht so in der Kritik wie der Generaldirektor der obersten internationalen Gesundheitsbehörde.

Auf der Weltgesundheitsversammlung, die vom 24. Mai bis 1. Juni tagt, dürfte dem 56-Jährigen einmal mehr der Unmut aus vielen der 194 WHO-Mitgliedsländer entgegenschlagen. Eskalierte doch in seiner Amtszeit ein lokaler Corona-Ausbruch in China zu einer Jahrhundertkrise. Die Liste der Vorwürfe, die sich die WHO und Tedros gefallen lassen müssen, ist lang. Ganz oben steht die halbherzige WHO-Reaktion.

Eine Corona-Untersuchungskommission unter Vorsitz der früheren Premierministerin Neuseelands, Helen Clark, und der Ex-Präsidentin Liberias, Ellen Johnson Sirleaf, bemängelt in ihrem Abschlussbericht vom Mai 2021, dass die WHO erst Ende Jänner 2020 den Internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen hatte und nicht schon früher. Zudem habe der globale Abwehrkampf gegen Corona unter einem „Mangel an Führung und Koordination“ gelitten – beides eigentlich Aufgaben der WHO.

Verhältnis zu China

Zu offensichtlich habe die WHO in der Frühphase mit China gekungelt und damit ihre „Autorität untergraben“, urteilt David Fidler, Gesundheitsexperte des Council on Foreign Relations. Tatsächlich pries Tedros Chinas desaströse Corona-Politik als „neuen Standard“.
Für einen Skandal sorgte das Entfernen eines Berichts von der WHO-Webseite, der Italiens schlechte Vorbereitung auf die Pandemie kritisiert. Inzwischen ermitteln Staatsanwälte aus Bergamo in dem Fall.

Zuletzt löste eine verschleppte Empfehlung Stirnrunzeln aus: Erst am 13. April 2021 veröffentlichten die WHO und zwei andere Organisationen eine „vorläufige“ Orientierungshilfe. Danach sollen die Mitgliedsländer den Verkauf wilder Säugetiere auf allen Lebensmittelmärkten bis auf Weiteres verbieten. Das Dokument erschien somit, mehr als 15 Monate nachdem das Covid-19-Virus möglicherweise 2019 auf einem Markt in der chinesischen Metropole Wuhan von einem Tier auf den Menschen übersprang.

Angesichts dieser Schnitzer sitzt Tedros nicht sicher auf dem WHO-Chefsessel. Im nächsten Jahr läuft seine erste Amtszeit aus. Ob die WHO-Mitgliedsländer 2022 dem früheren Außenminister und Ex-Gesundheitsminister Äthiopiens fünf weitere Jahre an der Spitze gewähren, ist fraglich.

Zuletzt ließ Tedros offen, ob er eine zweite Amtsperiode bei der 73 Jahre alten WHO anstrebt. Es ist eine behäbige Organisation aus dem Kalten Krieg, „unterfinanziert und unterbesetzt“, wie die Clark-Sirleaf-Kommission betont. Tatsächlich beläuft sich der Zweijahreshaushalt der WHO für 2020 und 2021 auf 4,8 Milliarden US-Dollar, sie beschäftigt rund 7000 Mitarbeiter. Damit verfügt die weltweit tätige WHO in etwa über den gleichen Finanzrahmen wie die Charité, die Berliner Universitätsmedizin. Mit den limitierten Mitteln muss die WHO nicht nur neue Gesundheitskrisen wie Covid-19 meistern. Sie hat auch den Auftrag, traditionelle Geißeln der Menschheit zu bekämpfen: von Krebs über Malaria bis Tuberkulose.

Keine Anweisungen möglich

Es ermangelt der Organisation vor allem an formaler Macht. „Wir können den Mitgliedsländern keinerlei Anweisungen geben“, erläutert WHO-Notfalldirektor Mike Ryan. Mit anderen Worten: Die WHO verschreibt die Medizin, schlucken müssen die Mitgliedsländer selbst.

Ryan, ein knorriger Ire, leitet ein Team von Epidemiologen, Immunologen, Virologen und anderen Gesundheitsexperten, die sich nahezu täglich im Shoc-Room (Strategic Health Operations Centre) tief unter dem WHO-Hauptquartier virtuell zusammenschalten. Monitore, Screens und Landkarten bedecken die Wände des nüchternen Hightech-Bunkers. Der Corona-Ausbruch sei einem „Waldbrand sehr ähnlich“, analysiert Ryan. „Ein kleines Feuer ist schwer zu sehen, aber einfach zu löschen. Ein großes Feuer ist einfach zu sehen, aber es ist sehr schwierig zu löschen.“

Die WHO will das Corona-Großfeuer mithilfe des internationalen Programms Covax stoppen, das im April 2020 entstand. Doch Covax kommt nicht richtig voran. Besonders hart trifft der Impfnotstand die Menschen in Afrika.