Damals, gegen Ende des Jahrhunderts, war die Vision von der Auflösung des Nationalstaates verbreitet: unterwegs zum Weltmarkt, zur Weltgesellschaft. Alle Länder dieser Erde würden im Konvergenzprozess wohlhabend werden und geistige Bereicherung aus allen Kulturkreisen schöpfen. Die Erde ist flach, sagte Thomas Friedman. Eine postnationale Konstellation, sagte Jürgen Habermas. Das Ende der Geschichte, sagte Francis Fukuyama. Nationalstaaten gehören in die alte Welt. Grenzen sind von gestern.

Tatsächlich hat sich die Welt geöffnet. Wir haben es kaum noch mit Produkten zu tun, die in Österreich (oder auch nur in Europa) produziert worden sind: Nahrungsmittel, Textilien, Elektronik, Kosmetik, Geräte. Literatur aus allen Teilen der Welt, globale Pop-Kultur, weltweiter Kulturbetrieb, Internet, Esskulturen und Fashion Styles. In den Etiketten unserer Kleidungsstücke kommt Europa fast nicht mehr vor. Auch die Europäisierung hat sich gut angelassen: Die Grenzen zwischen jenen Staaten, die sich zuvor Jahrhunderte blutig bekämpft hatten, wurden geöffnet – und es war erwartbar, dass man sie als Abgrenzungen in absehbarer Zeit vergessen würde. Staaten? Unwichtig.

Nationalstaaten kamen als "Macher" zurück

Doch in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich nationalstaatliche Gefühle unerwartet verstärkt. Die Briten, einst für ihren Pragmatismus angesehen, haben sich in einigen verwirrten Aufwallungen aus Europa verabschiedet. Die Amerikaner, einst für ihr demokratisches Modell geachtet, haben „America First!“ in die Welt gebrüllt. Die Ost- und Südostländer hätscheln ihre gewonnene staatliche Souveränität. Aber neben manchen Verirrungen sind die Nationalstaaten spätestens seit dem Eintritt ins Terrorzeitalter auch als „Macher“ wieder ins Spiel gekommen: Wirtschaftskrise, Migrationskrise. In der Coronakrise 2020 waren die Nationalstaaten ohnehin die Krisenmanager. Die nationalen Grenzbalken gingen hoch, während auf europäischer Ebene wenig Engagement sichtbar wurde. Ist das Virus das Vehikel des Wiederaufstiegs der Nationen und der Umkehr des Globalisierungsprozesses?

Da gibt es einmal politisch-wirtschaftliche Fakten. Die Krise hat die verlorene Autonomie bei sensiblen Produkten ins Blickfeld gerückt, etwa die Abhängigkeit von China bei der medizinischen Ausrüstung und bei pharmazeutischen Produkten. Dass ein der Weltherrschaft zustrebendes China weltweit Infrastrukturen kauft und baut, von Hafenanlagen bis Eisenbahnen, wird seit Längerem mit Misstrauen beobachtet; und im Moment überlegt man, ob man die lebenswichtige IT-Infrastruktur des Westens vertrauensvoll in die Hände der chinesischen Diktatoren legen soll. Globale Verflechtung hat ein dominierendes Prinzip: Die ganze Maschinerie muss ungestört und unbehindert laufen; Industriebetriebe sind auf verlässliche Lieferung und Logistik angewiesen. Doch das Welthandelsklima verschlechtert sich. Die Rückholung von Produktionen könnte sich empfehlen, denn auch die Hochtechnisierung lässt die Vorteile einer Auslagerung in Billiglohnländer schwinden. In der Virusepoche versiegen aber auch andere Ströme, die über Grenzen geflossen sind: Konsumierende Menschen bleiben aus. Tourismusbetrieben droht die Pleite, mit chinesischen Knipser-Horden oder entertainigen Großkongressen ist in den nächsten Jahren nicht zu rechnen. Man wirbt im Inland, nicht ohne Erfolg: Unsichere Mobilitätsverhältnisse empfehlen „Heimspiele“.

Neuordnung der Welt: Die Staaten sind das Gerüst.

Diese Impulse ändern die Stimmungslage. Heimat war anrüchig, wurde als Provinzialismus und Heimattümelei abgetan. Der spätmoderne Mensch war auf der ganzen Welt zu Hause – was immer eine Übertreibung war. Doch in der Corona-Epoche verdichten sich die Bilder der näheren Umwelt zu einer Erzählung von Regionalität, Nachhaltigkeit und Entschleunigung, die man bislang einem ausgeprägten Öko-Bewusstsein oder dem Austro-Marketing zugeordnet hatte. Am Ende sind die „altfadrischen“ Lokalisten die modernere Truppe als die Kosmopoliten. Die Synthese von Kuhglocke, Fitness und Umweltstatement, die bewusste Mobilitätsminderung anstelle der Meilenmaximierung, die Erkundung alter Apfel- oder Tomatensorten ist ein Switch in den Lebensstilbildern. Selbst in urbanen, intellektuellen und künstlerischen Quartieren werden neue heimatlich-ländliche Mythen formuliert: metaphysische Tiefe des Vogelgezwitschers anstelle des Times Square. In der liquiden, zufallsgesteuerten, fragilen Welt, in der man sich weder bei den Dingen noch bei den Werten mehr auskennt, ist es attraktiv, Überschaubarkeit wiederzugewinnen. Die Unmittelbarkeit der näheren Umgebung bietet Resonanz. Und Resonanz, sagt Hartmut Rosa, ist ebenso Sehnsucht wie Defizit spätmoderner Menschen. Man fühlt sich aufgehoben, wo man sich auskennt.

Gelebte Staatlichkeit

Im Wechsel der Blickrichtung kann man entdecken, dass auch die eigene Nation „einzigartig“ ist, so wie es seinerzeit die Romantiker (wie Johann Gottfried Herder) und die Ethnografen (wie Bronislaw Malinowski) verstanden haben. Denn in einer Einheitskultur der „Weltgesellschaft“ wäre nichts mehr einzigartig. Freilich wissen wir, dass auch die bedrückenden Welten von Franz Innerhofer und Karl Kraus zum „Heimischen“ gehören. Und jenseits der nationalen Resonanzsphäre kann man sich für eine faszinierende „fremde“ Welt interessieren. Man muss sich ja nicht selbst reduzieren auf ein inhaltsloses Gerede über die „innovativste“ und „unternehmerischste“ Zukunftsgesellschaft. Doch nach dem „öffnenden Liberalismus“, vermutet Andreas Reckwitz, bricht die Epoche des „einbettenden Liberalismus“ an. Das bedeutet nicht eine Selbstschädigungsstrategie durch Wiederkehr des überheblichen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, nicht einen materiellen und geistigen Protektionismus nationaler Kleingebilde, nicht eine Verbiedermeierung im Alpental. Auch wenn man mit Freude und Interesse die Welt wahrnimmt, freut man sich noch mehr über die Heimkehr und würdigt die Besonderheiten innerhalb der Grenzen. Auch das Virus führt „Wachstumsgrenzen“ vor.

Einen „Herbst der Globalisierung“ wird es nicht geben. Doch auch keinen „Herbst des Nationalstaates“. Denn dieser erscheint nunmehr nicht als Überbleibsel, als dahinschwindendes Residuum aus alter Zeit. Es ist keine „postnationale“, sondern eine „postpostnationale Konstellation“.Staatlichkeit lebt. Da kann man mit guten Gefühlen auch einen Nationalfeiertag begehen.