Bei der Bewegung „Fridays For Future“ steckt noch Corona-Sand im Getriebe. Auch „Black Lives Matter“ leiden unter den Covid-19-Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Aber „Stop Hate For Profit“ funktioniert umso besser. Je weniger sich Protest auf der Straße vereinen kann, desto mehr Dampf erhält der digitale Ethik-Express. Fast 1000 Unternehmen legen einen Monat ohne Facebook-Werbung ein.

Diese werbewirksame Moralattacke soll das gigantische Netzwerk zu Maßnahmen gegen Hass und Hetze durch seine Nutzer bewegen. Das bringt den beteiligten Konzernen von Adidas bis Unilever mehr gute Nachrede als alle bezahlten Social Media-Einschaltungen. Doch so leicht erkennbar der Eigennutz, so überschaubar ist die Wirkung des Boykotts. Der Firmenwert von Facebook ist zwar gleich einmal rasant um 53 Milliarden Euro gesunken. Aber mittlerweile beträgt die Marktkapitalisierung wieder das Zehnfache.

Die Aktie erholt sich schneller, als Firmen auf das Trittbrett des Empörungszuges aufspringen können. Facebook-Chef Mark Zuckerberg bleibt demonstrativ unbeeindruckt. Kosmetische Kontosperren im Umfeld von US-Präsident Donald Trump, seinem brasilianischen Kollegen Jair Bolsonaro und von rechtsextremen Gruppen: Das war’s. Aktivisten von „Stop Hate For Profit“ überlegen deshalb eine Ausweitung des Boykotts auf weitere Plattformen. Auch eine 2018 in Auftrag gegebene interne Beobachtung durch Bürgerrechtler wirft dem Social-Media-Giganten massive Mängel im Umgang mit Hass-Postings vor. Doch der soeben präsentierte Bericht lässt das Unternehmen ebenfalls kalt: Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg verneint die Möglichkeit „rascher Lösungen“.

Facebook entzieht sich weiterhin weitgehend jener Verantwortung, wie sie herkömmliche Medien seit jeher für ihre Inhalte pflegen. Es setzt auf die Masse seiner 2,5 Milliarden Nutzer. 1,6 Milliarden Menschen verwenden WhatsApp, eine weitere Milliarde Instagram. Beide gehören dem Konzern, der seinen Aufstieg einem Wandel des Vertrauens und der Neudefinition von Macht verdankt. Entstanden 2004, zehn Jahre nach Gründung des World Wide Web (WWW) Consortium, ist Facebook nicht nur ein Synonym für die populäre Anwendung des Web 2.0, sondern markiert eine enorme gesellschaftliche Veränderung. Sie hat sich herkömmlichen Medien schon mit dem Start des WWW angedeutet. Leserbriefe waren eine aussterbende Gattung: ständig weniger von den immer gleichen Schreibern, nicht selten in Kurrentschrift, oft die Anglifizierung der Zeitungssprache anprangernd.


E-Mail war der Umkehrschub. Und Social Media ist längst der Turbo dessen, was der Psychologe Peter Kruse (†2015) unnachahmlich vor zehn Jahren bei der „Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft“ im deutschen Bundestag erklärt hat: „Wenn hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und kreisende Erregung zusammen kommen, dann haben die Systeme eine Tendenz zur Selbstaufschaukelung.“ Sie würden mächtig, ohne dass sich ein Anlassfall prophezeien ließe. Deshalb brauche es zunehmend das Gespür, was in diesen Systemen Widerhall findet; ein Gefühl für die Resonanzmuster der Gesellschaft. Denn nach den ersten historischen Schritten im Web – Informationsbedürfnis, Selbstdarstellung und das Hinterlassen von Spuren – ginge es nun darum, über die Netze mächtig zu werden. Das sorgt für rasante Zusammenschlüsse und Bewegungen.

„A person like me“ als glaubwürdigste Quelle

Laut Kruse gibt es eine Machtverschiebung vom Anbieter zum Nachfrager, „einen extrem starken Kunden, einen extrem starken Mitarbeiter und einen extrem starken Bürger. Wenn es nicht gelingt, an dem Punkt empathisch genug zu sein und zu wissen, wo diese Art von Aufschaukelung stattfindet, dann bekommen wir in den nächsten Jahren gravierende Probleme.“ Das war 2010 und Facebook erst sechs Jahre alt.

Das Geschäftsmodell der Plattform beruht auf einer Erkenntnis, die kurz nach ihrer Geburt für Verblüffung gesorgt hatte. Das Edelman Trust Barometer verzeichnete neben den gewohnten Vertrauensverlusten aller Institutionen urplötzlich „a person like me“ als glaubwürdigste Quelle. Jemand wie du und ich. Einer, wie diese vermeintlichen Freunde im Facebook.

Doch der starke Bürger, den Kruse beschworen hat, ist nur eine Seite der Medaille. Unternehmen wie Parteien haben diese technologisch begründete Emanzipation inhaltlich instrumentalisiert und gekapert. Sie umgehen mit Social Media alle Gatekeeper – eine Türsteher-Funktion zu Information und auch Kommunikation, die zuvor das Privileg vor allem von herkömmlichen Massenmedien war. Für Donald Trump ist Twitter der wichtigste Kanal. Sebastian Kurz muss sich dort mit seinen 400.000 Followern innerhalb von Österreichs politmedialem Komplex nur Armin Wolf geschlagen geben. Doch der Bundeskanzler ist mit einer Million Abonnenten auf Facebook vollkommen unangefochten, seit die FPÖ dort die Seite von Heinz-Christian Strache eingestampft hat. Fast 40 Prozent der Österreicher nutzen nahezu täglich Facebook, rund halb so viel Instagram, zwei von drei WhatsApp. Gegen den Weltmarktführer ist Twitter hier mit vier Prozent ungeachtet seiner Multiplikator-Wirkung ein Zwerg.

Noch gnomenhafter allerdings erscheinen dagegen Bemühungen wie „Gemeinsam gegen Hass im Netz“, ein diese Woche vorgestelltes Maßnahmenpaket der Bundesregierung. Denn was Hass ist, müssten demnach die Internetplattformen entscheiden – und allenfalls rasch löschen. Das würde für sie zwar Mehraufwand, aber auch Machtzuwachs bedeuten. Für das System, nicht aber seine Nutzer. Zehn Jahre nach Kruses fulminanter Drei-Minuten-Rede wirkt der starke Bürger schon wie ein leerer Wahn aus Politiker-Ansprachen, die ohne die Floskel „auf Augenhöhe“ kaum mehr auskommen.


Die Kraft von Fridays For Future und Black Lives Matter entstand als klassische Protestbewegung auf der Straße. Social Media dient vor allem als Instrument zur Organisation. Stop Hate For Profit kann nur funktionieren, wenn der Boykott der Konzerne durch die Konsumenten getragen wird. Bottom-up statt Top-down. Doch diese Image-Kampagne für die beteiligten Unternehmen und gegen Facebook hat vorerst bloß den paradoxen Charme, dass sich die versuchte Aufschaukelung gegen das bewährte Instrument der Aufschaukelung richtet. Wirklich subversive Aktionen von denen da unten gegen die da oben geschehen unterdessen schon andernorts. Um leere Besucherreihen für einen Auftritt von Donald Trump zu erreichen, nutzen seine Gegner das chinesische Netzwerk TikTok.


Die Machtverschiebung zum starken Bürger klingt schöner als sie ist. Denn sie beinhaltet mehr Gehör für den krakeelenden Pöbel. Das wiederum erleichtert politische Polarisierung, wie sie Trump ans Ruder gebracht hat. Aber alle spielen mit. Auf beiden Seiten. Facebook veröffentlicht auch für Österreich täglich einen Werbebericht darüber, wie viel Geld es „zu politisch oder gesellschaftlich relevanten Themen“ erhält. Bisher 5,7 Millionen Euro. Sämtliche Parteien zahlen ein. Ungeachtet des Regierungsprogramms „Gemeinsam gegen Hass im Netz“, ungeachtet von Stop Hate For Profit. Zuckerberg bleibt zurecht gelassen.

© (c) GERNOT GLEISS