Herr Beste, es wird bald ein Jahr, dass Sie Botschafter in Österreich sind. Haben Sie sich gut akklimatisiert?

RALF BESTE: Ich denke schon. Das Land ist extrem gastfreundlich, Wien eine prächtige Stadt. Mir gefällt vor allen Dingen die Natur rund um die Stadt sehr gut. Ich fahre viel mit dem Rad in den Wienerwald und genieße das jedes Mal.

Birgt die sprachliche und kulturelle Nähe auch Fallstricke?

Von Karl Kraus stammt das berühmte Zitat, dass die gemeinsame Sprache Österreicher und Deutsche trenne. Da ist noch viel mehr dran, als ich anfangs dachte. Wir vertragen uns, aber wir verstehen uns nicht immer. Ich habe das österreichische Wörterbuch griffbereit auf dem Frühstückstisch. Aber das hilft nicht immer: Oft sind es weniger die Worte als die Formulierungen, die etwas anderes bedeuten. Vielleicht liegt es auch an den Lautstärken: Wir Deutsche sind ein bisschen lauter und direkter, die Österreicher etwas leiser und subtiler.

Sie meinen, gerissener.

Nein, eher hintersinniger. Deswegen empfiehlt es sich für mich als Deutschen immer, noch einmal genauer hinzuhören, ob ich ein Signal so verstanden habe, wie ich denke.

Wie nehmen Sie das Land politisch wahr?

Als sehr munter, vorsichtig gesagt. Schon bevor ich nach Österreich kam, ging der Ibiza-Skandal hoch. Die Regierung trat zurück, es gab eine Interimsregierung, Neuwahlen und dann eine neue Koalition, die in Deutschland sehr aufmerksam betrachtet wird.

Mitunter wirkt es so, als ob eine Spur Belustigung über die Art mitschwingt, wie in Österreich Politik gemacht wird. Trügt der Eindruck?

In Deutschland herrschte lange Zeit die Wahrnehmung österreichischer Politik als einer andauernden Großen Koalition. Aber das hat sich fast gedreht. In elf der letzten 15 Jahre regierte in Deutschland eine Große Koalition und in Österreich gibt es keine mehr.

Die großkoalitionäre Konsensrepublik ist zerbrochen. Steht das Deutschland noch bevor?

Es gibt in ganz Mitteleuropa von Skandinavien bis Italien diese Tradition von Konsensbildung mit Koalitionsregierungen. Und es gibt unterschiedliche Arten von Unzufriedenheit im Umgang damit. In Deutschland schien es lange klar, dass Große Koalitionen die Ausnahme sein sollten. In Zeiten wachsender Polarisierung geraten Konsensgesellschaften wie unsere unter großen Rechtfertigungsdruck. Umso wichtiger ist es zu erklären, warum Konsens gut ist. Auf der anderen Seite müssen auch in Koalitionen gelegentlich Unterschiede markiert werden, um einem immer diverseren Publikum klarzumachen, dass noch alle demokratischen Teile der Gesellschaft repräsentiert sind.

Hat Deutschland sich im Kampf gegen das Virus von Beginn an im föderalen Dickicht verheddert?

Glaube ich nicht. Im Gegenteil fand ich den offenen Wettstreit ums bessere Konzept sogar gut. Deutschland ist erheblich größer als Österreich, das Infektionsgeschehen war regional extrem unterschiedlich. Dinge, die in Bayern akut sind, muss man in Mecklenburg-Vorpommern vielleicht erst erklären. Am Ende haben sich die Ministerpräsidenten auf einen Weg geeinigt, der dann von allen getragen wurde. Das hat manchmal etwas länger gedauert, aber für eine breite Legitimation gesorgt. Umgekehrt musste ich lernen, dass ich in einem Land arbeite, das zwar starke Länder hat, aber faktisch viel stärker zentralstaatlich organisiert ist.

Der Skandal um den Wurstfabrikanten Tönnies legt die Schattenseiten des deutschen Wirtschaftsbooms offen. Ist Deutschlands Wohlstand durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa erschlichen?

Der Coronaausbruch in Ostwestfalen war eine schockierende Offenbarung. Wir müssen als wohlhabende Industrienation vernünftige Arbeitsbedingungen für alle bieten. Mir tut es um jedes Opfer der Missstände leid. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass der Fall Tönnies symptomatisch für die Verhältnisse bei uns steht; damit täte man Deutschland unrecht.

Neben der Gier, die sich in Gütersloh demaskierte, trat in Stuttgart dieser Tage blanker Hass offen zutage. Woher rührt er?

Da bin ich auch auf die Analysen anderer angewiesen. Die Ereignisse in Stuttgart zeigen vielleicht, in welchen Stress das Virus und die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung unsere Gesellschaft versetzt hat. Aber damit will ich kein Verständnis signalisieren: Gewalt ist nicht zu tolerieren, erst recht nicht gegen die Polizei. Das staatliche Gewaltmonopol ist unantastbar.

Unter dem Mob waren viele Migranten. Wieso tut sich die deutsche Politik so schwer, zuzugeben, dass es hier ein Problem gibt?

Natürlich waren unter den Randalierern viele Jugendliche mit Migrationshintergrund. Aber reicht das, um Stuttgart ausschließlich zu einem Migrationsproblem zu machen? Ja, es stimmt: Wir haben bei der Integration von Migranten noch eine schwere Aufgabe vor uns. Der bloße Rückfall in Stereotype hilft uns dabei aber auch nicht immer weiter.

Vielen steht die Kölner Silvesternacht vor Augen. Stärkt das Schweigen nicht die Demagogen?

Jetzt holen Sie aber weit aus. Ich hoffe und glaube, dass wir aus den Fehlern bei der Aufarbeitung der Kölner Silvesternacht gelernt haben.

Mit 1. Juli übernimmt Deutschland den EU-Ratsvorsitz. Ist Kanzlerin Angela Merkel Kapitänin auf einem sinkenden Schiff?

Ich glaube fest daran, dass die EU das fortschrittlichste Modell zur Organisation von Staaten ist, das auf der Welt verfügbar ist. Wir sollten nicht damit umgehen, als hätten wir ein zweites auf Lager. Und auch nicht so darüber reden. Die Welt beneidet uns darum, wie wir leben. Dass wir derzeit in einer schwierigen Lage sind, steht außer Frage. Dass wir die Krise bisher sehr gut gemeistert haben, aber auch.

Haben die überall niedergehenden Grenzbalken im Gegenteil nicht gezeigt, wie fragil Europa ist?

Die EU ist kein Zentralstaat und will das auch nicht sein. Sie ist ein einzigartiges Geflecht von Nationalstaaten. Das bedeutet eine gewisse Zerbrechlichkeit, die wir nicht leugnen sollten. Die Grenzschließungen ergaben sich aus den Gefällen im Infektionsgeschehen. Sie waren eine Notmaßnahme, die uns alle in den Abgrund schauen ließ und klargemacht hat, dass wir die Kehrtwende am sinnvollsten im europäischen Geleitzug hinkriegen. Die nächste Etappe wird sein, unsere Systeme und Grenzregime widerstandsfähiger zu machen, damit wir künftig flexibler und angemessener agieren können.

Viel hängt jetzt auch an den politischen Akteuren. Ängstigt es Sie, wie sehr sich in Europa die kollektiven Erlösungssehnsüchte in Kanzlerin Merkel bündeln?

Wir sollten die Erwartungen nicht überhöhen. Deutschland führt den rotierenden Ratsvorsitz für sechs Monate. Das heißt aber nicht, dass wir Europa dominieren. Wir sind nur das Land, das nun innerhalb der europäischen Institutionen und unter einer gewissen Hintanstellung der Einzelinteressen als Makler versuchen muss, die anstehenden Probleme zu lösen. Deutschland hat eine Rolle als Helfer, nicht mehr.

Die „Sparsamen Vier“ opponieren gegen den von Merkel und Macron initiierten EU-Wiederaufbaufonds. Ist das uneuropäisch?

Überhaupt nicht. Ihre Positionen sind ebenso legitim wie jene derer, die ein noch größeres Volumen für den Fonds fordern. Das Spektrum der Meinungen ist groß. Dass Deutschland seine Position geändert hat, heißt nicht, dass sofort auch andere ihre Meinung ändern müssen. Aber nehmen Sie es als Denkanstoß, dass ein Land, das genauso sparsam und an Reformen interessiert ist wie Österreich, diesen großen Schritt getan hat.

Was hat Deutschlands jähen Sinneswandel bewirkt?

Wir sind in einer historischen Krise. Einige wichtige europäische Länder wie Italien hätten allein auf sich gestellt bei ihrem Verschuldungsgrad extreme Schwierigkeiten, da allein herauszukommen. Wir wollen den Glauben an Europa, der auf Solidarität gründet, in diesen Ländern nicht zerstören, wir wollen diese Länder nicht verlieren. Auch aus ökonomischem Eigeninteresse. Denn diese Länder, und das teilen wir mit Österreich, gehören zu unseren wichtigsten Exportpartnern. Daher investieren wir und gehen durch die Schuldenaufnahme in gewisser Weise in Vorleistung. Aber diese Unterstützung ist auch im Interesse unserer Exportwirtschaft, das sollten wir nicht vergessen.

Es ist nicht der erste offene Dissens zwischen Wien und Berlin. Schon in der Flüchtlingskrise war man übers Kreuz. Ist Österreichs Außen- und Europapolitik mit Kanzler Kurz kantiger geworden?

Dissens gehört zur Politik, das ist doch völlig normal. Und Deutschland ist nicht das Maß aller Dinge. Bundeskanzler Kurz vertritt ein selbstbewusstes Land, das genauso wie Deutschland Verantwortung für den Gesamterfolg der Europäischen Union hat.

Drückt es sich davor?

Das will ich damit nicht sagen. Was mir aber auffällt: Viele Gesprächspartner hierzulande sagen mir, Österreich sei ein kleines Land – das klingt fast so, als ob es keinen Unterschied mache. Das sehe ich nicht so. Österreich ist ein erfolgreiches, mittelgroßes Land in Europa, dessen Bedeutung für das Gelingen der EU in den vergangenen Jahren eher gewachsen ist – das steigert natürlich auch die Erwartungen an das Land.

Ralf Beste schreibt nun auch für die Kleine Zeitung. Ab Dienstag, dem 30. Juni, startet seine neuen Kolumne "Bestes Depesche".