Wir folgen auch in der Coronakrise eigentlich der schwedischen Schülerin Greta Thunberg. Wir tun, was sie – an einer ganz anderen Front – von der Politik und letztlich von uns allen seit vielen Monaten mit einer weltweiten Schulstreikbewegung und drastischen Worten fordert: Wir hören auf die Wissenschaft! Wir setzen drastische Maßnahmen, die unser tägliches Leben spür- und sichtbar verändern. Diese Maßnahmen schränken unsere Freiheit ein, um großen Schaden von uns abzuwehren – also letztlich auch, um unsere Freiheit zu bewahren. Wir tauschen Freiheit gegen Freiheit, und uns ist klar, wir gehen dabei auf dünnem Eis. Wir dürfen die Souveränität über diesen Prozess nicht aus der Hand geben.

Wir werden dabei eher zum Tun gezwungen, als dass wir uns der Reflexion und dem Abwägen hingeben könnten, was wir tun sollten. Doch auch diese hohe Geschwindigkeit ist gut begründet. Die Beispiele des US-amerikanischen und des brasilianischen Präsidenten zeigen, dass Populisten zu lange auf ihre vermeintliche Lösungsrhetorik vertrauen. Ihre ersten Reaktionen – entgegen wissenschaftlicher Evidenz – sind Ignoranz und Leugnen. Die großen Plapperprotze reden lange klein und verspotten, was man nicht sehen kann, von dem die Wissenschaft aber sagt, dass es existiert und wirkt, sei es ein Virus oder das CO2.

Wir könnten daraus lernen, dem Leugnen wissenschaftlicher Evidenz nicht mehr zu trauen, selbst wenn es rhetorisch noch so überzeugend vorgebracht wird und wir es gerne hören würden, weil das bequem ist. Realitäten wie das Virus entstehen nicht durch Kommunikation und einen überlegenen Diskurs und können damit auch nicht abgewehrt werden.

Verglichen mit der Klimaerhitzung geht die Ausbreitung der Coronakrise rasend schnell vor sich. Und wir handelten gegen die Verbreitung des Virus evidenzbasiert zu einem Zeitpunkt, wo seine Wirkungen bei uns praktisch noch kaum spürbar waren. Die Klimakrise wirkt demgegenüber immer noch wie ein ferner Donner. Aber wir wissen um unsere kognitive Voreingenommenheit: Je weiter räumlich oder zeitlich entfernt uns eine Gefahr erscheint, desto weniger sind wir bereit, gegen sie zu agieren. Wir wissen, wir täuschen uns in dieser Hinsicht gerne selbst. Viren sind unsichtbar, genauso wie das Kohlendioxid unsichtbar ist, das wir in unserer Atemluft zu Milliarden Tonnen pro Jahr deponieren. Doch beide wirken. Trotz der Unsichtbarkeit setzen wir jetzt drastische Handlungen, um die fatalen Wirkungen des Unsichtbaren zu begrenzen – zumindest einmal bei den Viren.

Johannes Schmidl
Johannes Schmidl © Kk

Als der Arzt Ignaz Semmelweis 1848 in evidenzbasierten Studien nachwies, dass Ärzte ihre Hände waschen und desinfizieren sollten, weil das den Tod vieler Frauen und Säuglinge durch das Kindbettfieber drastisch reduzieren würde, schlug ihm jahrelanger wütender Protest seiner Kollegenschaft entgegen. Sie wollten ihr Verhalten nicht ändern und glaubten ihm nicht. Erst mit Verzögerung konnte sich seine vorgeschlagene Verhaltensänderung durchsetzen.

Geht so etwas heute schneller? Wir alle verzichten beispielsweise auf die Verwendung von FCKW in Spraydosen, seit klar wurde, dass diese eine Gefahr für die schützende Ozonschicht der Atmosphäre sind. Es war kein freiwilliger, sondern ein verordneter Verzicht. Damit hat die Menschheit bewiesen, dass sie zu evidenzbasierten, globalen, synchronen Verzichtshandlungen in der Lage ist. Beraubt uns dieser Verzicht eines Teiles unserer Freiheit? Wir alle haben ihn gut verkraftet. Wir haben uns eingeschränkt, ohne dabei Schaden zu nehmen.

Im Augenblick ändern wir unser Verhalten in großer Geschwindigkeit, und wir sind selbst davon überrascht. Allerdings agieren wir in der Erwartung, diese Änderung sei temporär, kurz bis maximal mittelfristig. Es geht um die Abwehr einer momentanen Gefahr. Aber worauf würden wir langfristig verzichten?

Die Geschichte der Umweltbewegung ist wesentlich eine Geschichte erfolgreich vermiedener Schäden und des Verzichts auf gewisse Handlungen und Technologien. Und das Wort „Verzicht“ bringt wahrscheinlich viele Menschen in eine reservierte bis abwehrende Haltung. Wir wissen, dass die Welt auf die Klimakrise so reagieren müsste, wie bestimmte Staaten – auch Österreich – jetzt auf das Coronavirus reagieren: schnell, auf wissenschaftlicher Basis, entschlossen, tief greifend, weit wirkend, sozial ausgewogen. Bei der Reaktion auf die Klimakrise geht es aber weniger darum, etwas zu vermeiden, sondern darum, etwas Neues aufzubauen.

Um die große Gefahr der Klimakrise abzuwehren, brauchen wir keinen Stillstand unserer Wirtschaft. Wir müssen dem starken Ochsen Wirtschaft, der den Wagen zieht, die Richtung vorgeben, in die er ziehen muss – und die, in die er nicht gehen darf: Es geht in Richtung einer hocheffizienten, kreislaufnahen Wirtschaft, die in Zukunft ohne den bedenklichen Kohlenstofftransfer von der Erdkruste in unsere Atemluft funktionieren muss: Kohle, Erdöl und Erdgas müssen bleiben, wo sie sind, das ist wissenschaftlich hochevident. Die Technologien dafür, sie zu ersetzen, kennen wir, sie sind erprobt, sie funktionieren. Doch ihr Einsatz wird verzögert und behindert: Im Gegensatz zu Corona gibt es bei der Klimakrise mächtige wirtschaftliche Interessen, die davon profitieren, dass sie nicht gelöst wird.

Der Corona-Tsunami wird abklingen. Wir werden uns danach aber in einer anderen Welt wiederfinden, und diese können wir gestalten. Wir müssen uns schon jetzt überlegen, wie wir sie haben wollen. Das Geld, das letztlich wir alle für den Neustart nach der Krise ausgeben, muss im Sinne einer lebbaren Zukunft verwendet werden.