Erstens werden wir mit der Welt der Komplexität konfrontiert. Die einfache Vorstellung vom sicheren Wissen mündete in Fortschritt, Vernunft, Aufklärung, Forschung, Experiment. Auf diesem Wege gelangt man zu Machbarkeit, Gestaltbarkeit, Planbarkeit. Es ist im Grunde eine Wissenschaftsvorstellung des 19. Jahrhunderts: das Gravitationsgesetz als Muster.

Jetzt aber sind wir mit einem Phänomen konfrontiert, welches sich nicht in eine Formel fassen lässt; bei dem sich die Informationen von Woche zu Woche verändern; bei dem man bestenfalls mit Wahrscheinlichkeiten, in vielem sogar mit Unsicherheit schlechthin zu tun hat; bei dem es nur situative Neubewertungen und Anpassungen geben kann. So ist die Welt.

Zweitens erschließen sich die Unsicherheiten eines Wissens-, Forschungs-und Politikprozesses. Breites Unwissen herrschte am Beginn, wo es um die Wahrnehmung und Einschätzung des Phänomens ging. Soll man es als geringfügige Erscheinung an der ostasiatischen Peripherie oder als Drohung einer globalen Katastrophe einstufen? Sars und Mers hätten auch Verbreitungspotenzial gehabt, doch sie erwiesen sich als harmlos. Das hätte auch aktuell so sein können. Es hätte aber auch eine ungleich größere Katastrophe stattfinden können: Bei hoher Infektiosität, hoher Tödlichkeit (wie bei Ebola) und einigen solchen Zutaten könnten wir mittlerweile Millionen Tote verzeichnen. Niemand würde behaupten, dass sich solche Viren nicht bilden können.
Wir sind Schritt für Schritt irgendwo zwischen den Extremfällen, zwischen Harmlosigkeit und Todesseuche gelandet. Aber man musste erst im Voranschreiten der Epidemie die Eigenschaften des „Biests“ zu entziffern beginnen.

Drittens wird das Dilemma nichtsynchronisierter Zeitverläufe bewusst. Es finden parallel Prozesse statt, die übereinandergeschichtet sind und unterschiedlich schnell ablaufen: epidemiologische, politische, gesundheitsorganisatorische, statistische, psychologische, symbolische, wirtschaftliche, internationale und andere Prozesse.

In Anbetracht der anfänglichen „Explosionsgefahr“ installierte man rigide Verhaltensmaßnahmen, ähnlich, aber zeitlich unterschiedlich in betroffenen Ländern quer über die Welt: Kontaktminimierung. Parallel laufen die Virenerforschung, die Evaluierung der Maßnahmenwirksamkeit, Erkenntnisse über Krankheitsverläufe, Risikogruppen, Simulationsmodelle und dergleichen. Alles von Woche zu Woche nachjustiert, verbessert, angereichert, revidiert. Komplexe Forschung verläuft so: durch andauernde Korrektur von Irrtümern, Revisionen aufgrund neuer Erkenntnisse, auch mit partiellem Widerspruch zwischen Experten. Immerhin sind niemals zuvor solche Mengen an Experten in den Medien aufgetreten, aus Disziplinen, die dem Großteil des Publikums vorher nicht bekannt waren.

Andere Prozesse kommen hinzu, etwa die psychologischen Verläufe: Wie lange sind restriktive Maßnahmen für die Menschen aushaltbar? Ab wann werden sinnvolle und notwendige Anweisungen nicht mehr befolgt? Wann droht Anomie? Dazu, mit zunehmendem Gewicht, die wirtschaftlichen Prozesse: Wie schnell bricht selbst eine solide, moderne Wirtschaft zusammen? Staatliche Hilfsprogramme müssen entworfen, legalisiert, implementiert werden. Weiters laufen die Testung, die präventiven Maßnahmen im Gesundheitssystem, die medizinische Ressourcenbeschaffung; längerfristig die Forschung zur Entwicklung von Medikament oder Impfung. Entscheidend ist nun, dass diese Prozesse mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen: Maßnahmen, die für den einen Prozess zu früh kommen, kommen für den anderen zu spät. Es gibt keine Konsistenz, da es sie nicht geben kann. Da gibt es nur Kompromisse zwischen Ungleichzeitigkeiten.

Viertens ist die zwingende Mehrdimensionalität von Situationsbeurteilungen offenbar geworden. Nicht nur in zeitlicher Hinsicht gibt es keine Optimierung, sondern auch in Hinsicht auf Relevanzen. Nach den richtigen Stoppmaßnahmen zu Beginn muss man anfangen, Nutzen und Kosten abzuwägen.

Es wäre vernünftig, Kontaktvermeidung aufrechtzuerhalten. Aber auch die Suspendierung des medizinischen Routinebetriebs hat Schäden zur Folge, die wirtschaftlichen Blockaden, die internationalen Grenzschließungen. Deshalb das vorsichtige „Hochfahren“, welches mehr Epidemie-Kranke und Tote zur Folge haben wird. Viele haben natürlich aus ihrer Interessenlage einen „Tunnelblick“ und verdrängen die anderen Dimensionen. Wenn man sich aber bei historischen Epidemien kundig macht, so sind zweite und dritte Wellen oder ein Wiederaufleben die Normalfälle. Natürlich werden in Wahrheit Menschenleben aufgerechnet.

Fünftens haben wir es mit dem irrigen Glauben an saubere politisch-wissenschaftliche Problembeseitigung zu tun. „Neue Normalität“ oder „Halbnormalität“ besagt, dass wir die nächsten Jahre mit dem Virus leben werden und mancherlei Vorsichtsmaßnahmen brauchen. Das Virus verschwindet nicht einfach. Wer Normalität ohne Wenn und Aber einfordert, hat das Problem nicht begriffen.

Partielle „Öffnung“ wird jedoch für manche zum Signal, dass man unbedacht den Normalbetrieb wieder aufnehmen könnte. In Wahrheit bleibt die Gefahr latent, sie kann jederzeit wieder ins Exponentielle umschlagen, solange wir nicht ein Impfserum haben, dieses massenproduziert wird und zur genügenden „Durchimpfung“ der Bevölkerung führt. Vielleicht geht sich das bis Ende 2021 aus. Vorher wissen wir zu wenig.

Sechstens führt Unverständnis für das klassische wissenstheoretische Modell „sich selbst zerstörender Prognosen“ einmal mehr zur Fehldeutung der Realität: Man erstellt eine Prognose über einen schädlichen Sachverhalt; daraufhin verhalten sich die Menschen anders; und die Katastrophe tritt nicht ein. Die Prognose war also „falsch“. „Falsch“ war sie aber nur, weil ihr Ergebnis abgewendet wurde. Doch natürlich treten hinterdrein jene auf, die schon immer gewusst haben, dass an der Sache nichts dran sei und man den ganzen Aufwand nicht gebraucht hätte: Es sei auch nicht schlimmer als Grippe. Ein simpler, aber verbreiteter Denkfehler.

Siebtens geistert allenthalben das krisenbezogene Freeridertum herum, im Sinn der Verwirrung von Wissen, Situationsinterpretation und Weltanschauung. Wer Diktatur, Dauerausnahmezustand oder Expertenherrschaft kommen sah, wer eine Intrige der Chinesen vermutete oder den Triumph neoliberaler Hemmungslosigkeit unterstellte, sieht sich bestätigt: Wir haben schon immer gesagt ... Und wer Anliegen unterbringen möchte, die kaum einen Zusammenhang zur Epidemie aufweisen, die man aber schon immer vertreten hat (etwa mehr Geld für dies und das), sieht angesichts der großen staatlichen Töpfe eine Chance: Wir fordern ...

Eine pikante Deutungsvariante: Man muss halt ein paar Leute opfern, vor allem die Alten, wenn das Vehikel laufen soll. Ein paar Bobo-Kommentatoren, die unter dem Homeoffice leiden, verspüren ein heroisches Rühren in der Brust, wenn sie sich solchen darwinistischen Fantasien hingeben.

© (c) Christian Jungwirth