Hauptthema des Gesprächs mit Merkel werden EU-Themen sein, allen voran der neue mehrjährige Finanzrahmen und "Bilaterales" wie die Transitfrage. Kurz reist erstmals als Chef der türkis-grünen Bundesregierung nach Berlin. Die Bildung des neuen österreichischen Kabinetts wurde in Berlin mit großem Interesse verfolgt, könnte es doch in Deutschland nach der Bundestagswahl 2021 zu einer schwarz-grünen Regierung kommen. Auch der Kanzler selbst hatte von "einer gewissen Vorbildfunktion" von Türkis-Grün für das Nachbarland gesprochen.

Aus Kreisen der konservativen Unionspartei wurden dem ÖVP-Vorsitzenden im Vorfeld Rosen gestreut. So äußerte CDU-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (77) "großen Respekt" für die Politik des 43 Jahre jüngeren Kurz. Schäuble würdigte jüngst in einem Podcast-Interview für das "Morning Briefing" des renommierten deutschen Publizisten Gabor Steingart, "was Sebastian Kurz in Österreich mit der ÖVP in den letzten Jahren zustande gebracht hat". Er habe sogar "mehr Respekt, als ich zum Teil in der deutschen öffentlichen Meinung so wiederfinde", sagte der langjährige frühere Finanzminister Deutschlands.

"Die beste Lösung"

Zur türkis-grünen Regierungsbildung meinte Schäuble: "Nach den Neuwahlen hat er auf der Grundlage der Wahlergebnisse die beste Lösung getroffen. Jetzt wollen wir mal sehen, was daraus wird, wünschen ihm und Österreich jeden Erfolg, urteilen aber nicht vorschnell von oben herunter. Ich habe großen Respekt." Die deutschen Grünen betrachten das türkis-grüne Projekt laut deutschen Medienberichten indes mit Skepsis. Anlässlich der Regierungsbildung in Österreich waren sie auf Distanz zu ihren österreichischen Kollegen gegangen.

Die deutsche Grünen-Chefin Annalena Baerbock sagte zu Jahresbeginn in einer Anfrage der linksausgerichteten deutschen Tageszeitung "taz" im Hinblick auf den türkis-grünen Koalitionsvertrag: "So etwas wird es in Deutschland nicht geben." Die Koalitionsverhandlungen seien nicht einfach gewesen, zeigte Baerbock allerdings Verständnis. Da sollten die Deutschen nicht diejenigen sein, die "schlaue Tipps von der Seitenlinie" geben. Doch auch andere deutsche Grüne sahen die Zugeständnisse, die die österreichischen Grünen gemacht haben, skeptisch. Die grüne Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg betonte laut "taz": "Dieser Vertrag ist keine Blaupause für Deutschland." Und Erik Marquardt, Flüchtlingsexperte der deutschen Grünen im Europaparlament, sprach gar von einem "Armutszeugnis". Verwunderung gab es vor allem über den von ÖVP und den Grünen vereinbarten koalitionsfreien Raum im Falle einer neuerlichen Flüchtlingskrise.

Bei einem Abendessen am Montagabend im Axel-Springer-Haus sind anlässlich des Kurz-Besuchs in Berlin laut dem Wiener Bundeskanzleramt rund 30 Gäste geladen, darunter die deutschen CDU/CSU-Bundesminister Horst Seehofer (Inneres), Peter Altmaier (Wirtschaft), Andreas Scheuer (Verkehr), der sozialdemokratische Generalsekretär Lars Klingbeil (SPD), die grüne EU-Abgeordnete Sarah Wiener sowie namhafte deutsche Medienvertreter. So werden die Chefredakteure der Boulevardzeitung "Bild" (Julian Reichelt), der konservativen "Welt am Sonntag" (Johannes Boie) und des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" (Steffen Klusmann) dabei sein. Draußen bleiben müssen indes die mitreisenden österreichischen Journalisten. Der Termin gilt als "nicht medienöffentlich".

"Deutschland ist unser größtes Nachbarland, unser wichtigster Handelspartner und ein bedeutender EU-Mitgliedsstaat", ließ Kurz im Vorfeld der Reise wissen. "Daher ist ein möglichst enger und regelmäßiger Kontakt mit Deutschland für uns von großer Bedeutung. Deutschland ist zudem wie Österreich ein großer Nettozahler, daher müssen wir uns vor dem anstehenden Sondertreffen des Europäischen Rates zum neuen EU-Budget eng abstimmen." Die Fronten im Streit über den mehrjährigen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 sind verhärtet, die Zeit drängt. EU-Kommission, Europaparlament sowie die Mehrheit der EU-Staaten treten für eine Erhöhung des Budgets ein.

Eine Gruppe von sogenannten Nettozahler-Staaten, darunter Österreich, will den Beitrag, den die EU-Länder zum Gemeinschaftshaushalt leisten, bei einem Prozent ihrer jeweiligen Wirtschaftsleistung belassen. Die EU-Kommission schlägt 1,114 Prozent vor, das EU-Parlament fordert sogar 1,3 Prozent. Ein Kompromissvorschlag der finnischen EU-Ratspräsidentschaft von 1,07 Prozent wurde abgelehnt. Der aktuelle EU-Ratsvorsitz Kroatiens will während seiner Amtszeit zu einer Einigung kommen, die Verhandlungen leitet aber EU-Ratspräsident Michel. Dieser hat für den 20. Februar einen Sondergipfel zum Thema Budget einberufen und sieht die Zeit reif für eine Einigung.