Herr Brauer, Sie bekommen heute Abend den Fritz-Csoklich-Demokratiepreis für Ihre Reden im Gedenkjahr 2018. Ein gefährdetes Pflänzchen“ haben Sie die Demokratie genannt. Wieso?
Arik Brauer: Die Demokratie ist immer gefährdet, und das kann auch gar nicht anders sein, denn es gibt kein Vorbild für Demokratie. Der Mensch hat sie erfunden, ja erfinden müssen, weil er die in der Natur selbstverständliche, arterhaltende Eigenschaft des Egoismus überwinden muss. Weil wir aus der Natur ausgetreten sind aufgrund der Technik und der Wissenschaft.

Was gefährdet die Demokratie?
Der uns angeborene Egoismus und der uns angeborene Wille zur Macht, der wahrscheinlich auf Angst beruht, und auch die Eitelkeit, die ein Teil unseres Wesens ist. Das spricht alles für eine Diktatur. Wir haben in unserer geschichtlichen Vergangenheit nur Diktaturen gehabt, denn auch die Griechen, die das Wort erfunden haben, haben ja Sklaven gehabt.

Was stärkt die Demokratie?
Die Demokratie stärkt, dass manchen Menschen vollkommen klar ist: Wenn es uns nicht gelingt, eine Weltdemokratie durchzusetzen, dann werden wir auf dieser Erdkugel nicht mehr zufrieden leben können.

Sind Sie diesbezüglich optimistisch oder pessimistisch?
Ich bin ein beruflicher Wunschdenker und glaube, wenn wir damit fertig werden können, dann werden wir auch fertig damit. Die Demokratie ist viel mächtiger, als sie in meiner Kindheit war.

Inwiefern?
In ganz Europa gab es damals eine Diktatur neben der anderen. Demokratie ist nichts Absolutes, sondern etwas Relatives. Eine wirklich vollkommene Demokratie mit einer paradiesischen Gerechtigkeit wird es wahrscheinlich nie geben, aber relative Gerechtigkeit ist in einem Teil der Welt durchgesetzt.



Sie haben kürzlich wieder vehement die Idee einer Kollektivschuld von sich gewiesen. Haben Sie das schon immer so gesehen?
Ich wurde von meinen Eltern so erzogen und geprägt: Man soll niemanden verurteilen, bevor man nicht einen Kilometer in seinen Schuhen gegangen ist, sagt ein jüdisches Sprichwort. Das war für mich schon als Kind selbstverständlich, dass man sich überlegt, bevor man die Schwächen eines Schulkollegen oder auch eines Partners beurteilt: Wo kommt das her, wieso ist das so und würde ich an seiner Stelle ähnlich handeln? Das heißt nicht, dass man alles tolerieren kann, aber verstehen.

Sie haben gesagt, es ist nichts und niemand mit der Nazi-Maschinerie vergleichbar. Warum?
Wer nach allen Richtungen mit den Begriffen Nazi und SS herumfuchtelt, der weiß nicht, wovon er spricht. Wir haben einen Rechtsruck in Europa und wir wissen auch, warum. Aber das kann man mit den Nazis nicht vergleichen. Nazis würden aufstehen und mit Maschinengewehren am Mittelmeer alles niedermähen. Das wäre überhaupt kein Problem für sie. Das Problem würde gar nicht existieren. Die vorhandenen „Ausländer“ würden einfach ins KZ kommen, Sklavenarbeit verrichten oder vergast werden. Die Nazis, das war etwas ganz anderes und ein kultureller Einbruch in der Menschheitsgeschichte, der einmalig war.

Sie haben den Krieg in Wien überlebt, sind nach Paris gegangen und 1964 zurückgekommen. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich war in keinem Konzentrationslager. Ich bin im Vergleich zu anderen Leidensgenossen relativ auf die Butterseite gefallen. Ich bin von Nicht-Juden, also Österreichern gerettet worden, die ein Risiko auf sich genommen haben. Das vergisst man nicht. Ich bin Österreicher. Ich bin hier aufgewachsen und nicht in irgendeinem Ghetto.

Ihre Aussage, Sie hätten Verständnis dafür, dass viele 1945 nicht nur als Befreiung erlebt haben, ist stark kritisiert worden. Sehen Sie das nach wie vor so?
Selbstverständlich sehe ich das so. Ich habe es miterlebt, habe meine Nachbarn gekannt und gewusst, was sie empfinden und empfinden mussten. Für die Mehrheit war 1945 keine Befreiung, denn zunächst einmal ist alles nur schlechter geworden für die, die von den Nazis nicht verfolgt waren. Die haben sich plötzlich von der ausländischen Militärmacht verfolgt gefühlt und gedemütigt. Da musste jemand wirklich politisch sehr bewusst leben, um zu begreifen, dass das eine Befreiung vom Nazi-Faschismus war und daher ein Aufstieg.

Wenn es um menschliche Schwächen geht, beziehen Sie sich auch immer selbst ein. Haben Sie das mühsam erlernt oder ist das ein Charakterzug von Ihnen?
Mir kommt das eigentlich normal vor, denn wenn man die Menschheit verstehen will, dann muss man doch erst einmal sich selbst verstehen und sich fragen, wie würde ich in dieser oder jener Situation reagieren? Ich bin in der Beurteilung von anderen schon sehr vorsichtig.

Sie leben auch in Israel, wie schätzen Sie die Lage dort ein?
Ich verbringe ein Drittel des Jahres in Israel. Ich habe dort ein Haus, eine Tochter, vier Enkelkinder und einen Freundeskreis. Ich werde dort als Israeli gesehen. Was soll man sagen? Das kann man nicht in einem einzigen Satz sagen. Ich spreche weder für die Kultusgemeinde noch für den israelischen Staat. Ich würde gleich morgen Früh das gesamte israelische Machtsystem aus Ost-Jerusalem und den sogenannten besetzten Gebieten herausnehmen – unter einer Bedingung, dass es das Ende aller Tragödien ist. Keine alten Rechnungen, keine offenen Blutrachen, keine Diskussionen über Grenzen von Abraham oder von König David, nichts. Die Bevölkerung soll wählen, was sie für ein System haben will in Palästina, aber ich weiß, dass das nicht passieren kann, solange ich lebe. Aber wenn es nur darum geht, die Machtstrukturen aus diesen Gebieten wegzunehmen, damit es bessere Abschussbasen für Raketen auf Tel Aviv gibt, dann bin ich natürlich nicht dafür, dass sie hinausgehen, sondern dass sie dort bleiben und nicht einen einzigen Soldaten herausnehmen.