Herr Hahn, vor drei Monaten hätte kaum jemand darauf gewettet, dass Sie eine dritte Amtszeit in Brüssel dienen. War Ibiza ein Glücksfall für Sie?
JOHANNES HAHN: Ich wette nicht, aber in diesem Fall hätte ich schon auf mich gesetzt.

Der damalige Kanzler Kurz wollte Sie ausmustern. Jetzt sind Sie in Brüssel wichtiger als zuvor. Ist das eine Genugtuung für Sie?
Ich habe mit Sebastian Kurz ein sehr gutes Verhältnis. Von ausmustern kann nicht die Rede sein. Was mich schon freut, ist, dass mich das österreichische Parlament einstimmig vorgeschlagen hat. Das verdanke ich möglicherweise auch Ibiza.

Wie sehr verbunden fühlen Sie sich eigentlich noch der ÖVP?
Ich gehöre zur aussterbenden Spezies der Stammwähler.

Schwarz oder Türkis?
Ich sehe das nicht als Gegensatz. Alles muss sich weiterentwickeln. Man soll nicht farbenblind sein.

Sie sind jetzt für den EU-Haushalt zuständig. Ist es das Portefeuille, das Sie wollten?
Ja. Der Haushalt bietet doch erheblich die Möglichkeit, an der Politikgestaltung mitzuwirken. Letztlich ist jedes Budget die in Zahlen gegossene Politik.

Ihr letztes Ressort, die Erweiterungspolitik, war undankbar. Viel konnten Sie den Beitrittskandidaten nicht bieten. Ihre Bilanz?
Der scheidende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat bei seinem Start salopp gesagt, während seiner Amtszeit werde es keinen Beitritt geben. Das ist manchen in die falsche Kehle geraten. Dabei war es nur die Beschreibung einer faktischen Gegebenheit. Damals war klar, dass kein Land so weit sein wird, dass es in den kommenden fünf Jahren beitreten kann. Mit Kroatien ist acht Jahre verhandelt worden. Trotzdem haben wir am Balkan viel weitergebracht. Auf meine Initiative hin sind 2017 in Sarajevo alle Staats- und Regierungschefs der Westbalkanstaaten zusammengekommen. Das war ein Novum. Diese haben sich zu diesem Zeitpunkt im günstigsten Fall außerhalb der Region getroffen. Heute ist es Normalität. Wenn es ein Problem gibt, greifen sie jetzt zum Telefon. Oder nehmen wir Nordmazedonien! Da ist es uns gelungen, dass sich dieses Land, das durch die frühere Führung relativ isoliert und eingebunkert in einem falsch verstandenen Nationalismus war, geöffnet hat und es einen im Wesentlichen friedlichen Übergang gab. Die neue Regierung konnte mit Bulgarien und Griechenland ihre bilateralen Konflikte beilegen. Ich habe da viel investiert. Das alles macht mich stolz.

Der Balkan bleibt ein Konfliktherd. Bereitet Ihnen das Sorge?
Der Prozess, diese Länder an die EU heranzuführen, ist noch lange nicht abgeschlossen. Das geht im Wesentlichen über die wirtschaftliche Entwicklung. Unsere eigenen Mitgliedsstaaten müssen sehen, dass ein Neuzugang aus der Region ein Gewinn, keine zusätzliche finanzielle Belastung ist. Die rechtsstaatliche Entwicklung muss voranschreiten. Aber das geht nur Hand in Hand mit der ökonomischen und schließt den Kampf gegen die Korruption ein, die in der Region noch immer stärker verbreitet ist als bei uns.

Auch das Budget könnte ein undankbarer Job werden. Wie werden Sie das Loch stopfen, das der Brexit hinterlassen wird?
Es gibt einen Budgetvorschlag der Kommission für die Zeit von 2021 bis 2027, der den Austritt der Briten bereits berücksichtigt. Die eigentliche Herausforderung würde sich 2020 ergeben, wenn es zu einem ungeordneten Brexit käme.

Boris Johnson hat gedroht, die Schlussrechnung nicht zu begleichen. Was, wenn er Ernst macht?
Ich kenne Johnson, seit er Bürgermeister von London war, habe von ihm so viele Ankündigungen gehört. Für mich zählt, was real eintritt. Unser Ziel ist ein geordneter Austritt. Er ist auch im Interesse der Briten. Das sehen auch die vernünftigen Briten so. Ich hoffe, sie setzen sich durch. Viel Zeit bleibt nicht. Aber die Austrittskonditionen sind lange ausverhandelt und würden auch die Basis für eine geordnete Zusammenarbeit danach bieten.

Johnson behauptet, er verhandle mit Brüssel. Stimmt das?
Nein, das ist Teil dieser Ankündigungen, die immer gemacht werden und dann nicht so stattfinden. Wir gehen im Kreis. Aber am Montag gibt es in Luxemburg ein Treffen zwischen Kommissionspräsident Juncker und Johnson.

Ist ein Ende mit Schrecken nicht besser als ein Schrecken ohne Ende?
Jetzt gilt die Deadline 31. Oktober. Man wird sehen, ob ein geordneter Austritt möglich ist. Darauf müssen wir hinarbeiten.

Sollte es ein zweites Brexit-Referendum geben?
Das müssen die Briten entscheiden. Wenn Sie sich die Umfragen anschauen, gibt es keinen klaren Hinweis, wie so ein Referendum ausginge. In Großbritannien ist sehr viel Zeit mit prozeduralen Fragen verloren worden, anstatt die Bevölkerung über die Konsequenzen eines Austrittes aufzuklären.

Johnson schickt das Parlament auf Zwangsurlaub. Ist in Großbritannien die Demokratie in Gefahr?
Die britische Demokratie steht auf sehr starken Fundamenten. Aber aus unserer Erfahrungswelt wirkt es ungewöhnlich, dass ein Regierungschef ein Parlament auf Urlaub schicken kann. Ich halte es angesichts der Polarisierung in der Brexit-Debatte für bedenklich.

Nach dem Abgang der Briten werden die EU-Nettozahler tief in die Tasche greifen müssen. Bahnt sich da ein neuer Konflikt an?
Die Erstellung eines mehrjährigen Finanzrahmens ist nie von großer Harmonie gekennzeichnet. Die Kommission hat einen Voranschlag unterbreitet, der das Ergebnis vielfältigster Beratungen und Wünsche ist, was auf europäischer Ebene in den nächsten Jahren gemacht werden soll: Sicherung der Außengrenzen, Investition in die Verteidigung, Forschung und Innovation, in den Klimaschutz und die Energiewende. Die Migration soll an ihren Wurzeln angepackt werden. In den nächsten Monaten wird es die Diskussion darüber geben, was sich die Mitgliedsstaaten leisten wollen.

Sollen den Osteuropäern, die den Rechtsstaat beugen, EU-Gelder gestrichen werden?
Das Budget ist das Ergebnis eines einstimmigen Beschlusses aller Mitgliedsstaaten. Meine Erfahrung ist, dass man vieles auch mit positiven Anreizen unterlegen und so zum selben Ergebnis kommen kann. Wir Europäer müssen uns stärker miteinander beschäftigen, damit sich die unterschiedlichen Kulturen besser verstehen und wir mehr an einem Strang ziehen. Das hat auch Ursula von der Leyen zu einem Schwerpunkt gemacht.

Ist es eine gute Idee, künftig ausgerechnet einen Italiener über die Einhaltung der strengen EU-Defizitregeln wachen zu lassen?
Ihm wird besonders auf die Finger geschaut werden. Aber ich verteidige jeden Kollegen, der neu nach Brüssel kommt. Wie alle Kommissare hat er einen Eid darauf zu schwören, als Europäer tätig zu sein und keine Anordnungen von daheim entgegenzunehmen. Wir haben kollegiale Beschlüsse. Niemand kann allein entscheiden. Insofern würde ich Entwarnung geben. Ich kenne Paolo Gentiloni schon aus seiner Zeit als Außenminister und schätze ihn als honorigen, seriösen Partner.

Ist Italiens Schuldenberg eine Gefahr für den Euro?
Italiens Schulden sind in erster Linie eine Herausforderung für Italien. Man muss aufpassen, dass sie nicht weiter anwachsen. Das wird auch Aufgabe der neuen Kommission sein. Aber ich glaube, mit dem Regierungswechsel in Italien ist eine gewisse Entspannung eingetreten.

Was halten Sie von der neuen Koalition in Rom?
Man wird sie an ihren Taten messen. Das ist mein Beurteilungsprinzip.
Soll die Europäische Union den Italienern entgegenkommen?
Entgegenkommen wohin? Die Regierung in Rom muss erst einmal sagen, was sie vorhat. Dann muss man sehen, wie realistisch die Pläne sind und wie sie sich budgetär auswirken. Wir unterstützen Italien schon jetzt sehr umfangreich. Italien ist einer der größten Empfänger von Strukturfondsmitteln.

Rom will mit dem Sanktus aus Brüssel weiter mehr ausgeben, als es hat. Sind Sie dafür zu haben?
Das ist eine Uraltdiskussion. Wäre es sinnvoll, bei der Einhaltung der strengen EU-Defizitregeln eine gewisse Flexibilität walten zu lassen? Das wird auch eine Diskussion in der neuen Kommission sein – natürlich mit den europäischen Finanzministern und Regierungschefs. Ich persönlich halte Budgetdisziplin für wichtig.