Die Vorbereitungen für die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag führen zu einer wichtigen Erkenntnis: Die Türkei hat durchaus eine lebendige Demokratie. Wie bitte? Hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht alles Erdenkliche getan, um die demokratischen Institutionen zu erdrosseln und dem Rechtsstaat höchstmöglichen Schaden zuzufügen? In der Tat: Er regiert im Ausnahmezustand mit Notverordnungen, hat die Medien weitgehend gleichgeschaltet, die Justiz auf Regierungskurs getrimmt. Wer Kritik übt, wird ins Gefängnis geworfen. Demonstrationen und Streiks sind verboten. Es stimmt, Erdoğans Maßnahmen lesen sich wie aus dem Handbuch für Diktatoren.

Aber. Nachdem der Präsident vor acht Wochen spontan Neuwahlen ansetzte und 59 Millionen Wahlberechtigte zu den Urnen rief, ist das Land kaum wiederzuerkennen. Die notorisch zerstrittene Opposition zeigt sich plötzlich wie verwandelt: fantasievoll, modern, selbstbewusst - und einig. Statt sich wie gewohnt zu zerfleischen, konzentriert sie alle Kräfte auf die Abwahl des Autokraten. Sie hat über harte ideologische Grenzen hinweg eine Wahlallianz geschmiedet. Türkische Ultranationalisten stehen im Wahlkampf neben Vertretern der linken Kurdenpartei HDP. Die letzten Umfragen signalisieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Opposition und dem Regierungslager. Meinungsforscher sprechen von möglichen großen Überraschungen.

Vorsichtige Euphorie

Muharrem Ince
Muharrem Ince © APA/AFP/YASIN AKGUL

Wo vor kurzem noch Depression herrschte, hat vorsichtige Euphorie eingesetzt. Die Opposition hat Erdoğans taktische Winkelzüge durchkreuzt und mit Muharrem Ince, Meral Aksener und SelahattinDemirtas gleich drei charismatische Präsidentschaftskandidaten hervorgebracht. Im Wahlkampf führen sie der Nation vor, wie eine moderne, demokratische, freiheitliche Türkei aussehen könnte. Hier zeigt sich auch, wo der für tot erklärte „Geist“ der Gezi-Proteste von 2013 geblieben ist: in den Köpfen und Herzen der Menschen. Von Gezi führt ein direkter Weg auch zum aussichtsreichsten Kandidaten Muharrem Ince von der sozialdemokratischen CHP, der mit dem aus der Bewegung bekannten Witz auf politische Angriffe reagiert. Seine Inhalte sind auf Versöhnung ausgerichtet. Er verspricht eine Türkei, in der niemand mehr Angst haben muss. Trotz geringer Sendezeit dringen die Botschaften der Opposition durch. Denn alle wissen: Die Inflation rast, die Korruption ist endemisch, die Gesellschaft tief gespalten. Erdoğans alte Rezepte von noch mehr Brücken und Straßen klingen plötzlich hohl. Nach 16 Jahren an der Macht spricht der Dauerherrscher vor halbleeren Plätzen, während Tausende zu den Kundgebungen der Opposition strömen.

Widerständige Zivilgesellschaft

Recep Tayyip Erdoğan
Recep Tayyip Erdoğan © APA/AFP/ARIS MESSINIS

Für die Demokratie sind das grundsätzlich gute Nachrichten. Wie schon beim äußerst knappen Resultat des Referendums über das autoritäre Präsidentschaftssystem im vergangenen Jahr erweist sich, dass die westliche Demokratie tief in der Gesellschaft der Türkei verwurzelt ist. 95 Jahre Republik lassen sich eben doch nicht per Federstrich ausradieren. Die Zivilgesellschaft lebt, sie ist in der von vielfältigen Problemen geplagten Türkei so widerständig, wie man sich das auch für Deutschland und Europa wünschen möchte, falls sie unter Druck kommen sollten. Das Aufleben der Demokratie liefert erneut den Beweis, wie wichtig die Unterstützung der demokratischen Opposition in der Türkei ist. Weil eine demokratische Türkei nicht nur ein zuverlässiger Partner wäre, sondern auch eine Brücke der Demokratie in den Nahen Osten. Vor 16 Jahren war Erdoğans islamistische Regierungspartei AKP eine frische politische Kraft, die alte Zöpfe abgeschnitten und das Land vorangebracht hat. Doch jetzt ist die „Materialermüdung“, die er ihr unlängst attestierte, unübersehbar – und betrifft niemand so sehr wie den Patriarchen selbst. Eigentlich eine simple Tatsache: Macht ist endlich. Es spricht sich herum, dass der fast zwei Jahrzehnte als unschlagbar geltende Präsident verwundbar sein könnte. Als Erdoğan die Wahlen ansetzte, sahen sein Wahlsieg und die damit verbundene Einführung des autoritären Präsidialsystems noch völlig ungefährdet aus. Acht Wochen später liegt auf einmal nicht nur der von ihm betriebene System-, sondern auch ein Machtwechsel in der Luft. Zwar bleibt er der Favorit im Präsidentschaftsrennen, denn knapp die Hälfte der Wähler war ihm bisher treu, er beherrscht den Staatsapparat und die Hohe Wahlkommission. „Er hätte keine Wahlen angesetzt, wenn er sie verlieren könnte“, schrieb ein AKP-naher Zeitungskolumnist. Was aber, wenn er sich verzockt hat?

Unberechenbarer Erdoğan

Ein Sieg der geeinten Opposition wäre ein epochaler Einschnitt für die Türkei und hätte für Erdoğan existentielle Folgen, denn er wäre durch keine Immunität mehr vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Womöglich wird er sich einer Stichwahl am 8. Juli stellen müssen. Der drohende Machtverlust aber macht ihn unberechenbar. Viele Beobachter bezweifeln, dass er eine Niederlage zulassen würde. Die Vorzeichen für massive Manipulationen mehren sich. Der Wahlsonntag wird spannend - und vielleicht der Auftakt einer weiteren Zerreißprobe für die türkische Gesellschaft.