Wenn ich meine Studenten frage, was ihnen zu Marx einfällt, bekomme ich öfter, als mir lieb ist, den abgestandenen Witz zu hören: „Groucho“. Die Wahrheit ist: Viele der Jungen wissen gar nichts von Karl Marx, weswegen ihn nicht wenige jener Komikergruppe zuschlagen, die unter dem Namen „Marx Brothers“ berühmt wurde. Dabei hat vielleicht kein anderer Denker das Schicksal des 20. Jahrhunderts tiefer geprägt als Karl Marx.

Die Betonung liegt auf Denker. Denn obwohl Marx die Weltrevolution des „Proletariats“ prophezeite und befürwortete – er selbst beteiligte sich aktiv an der Formierung der Kommunistischen Partei – und obwohl er derart indirekt Entwicklungen anstieß, die zu Millionen Toten und brutalsten Diktaturen führten, so steht doch außer Zweifel, dass er Fragen zur „sozialen Lage“ der Arbeiterschaft stellte, die buchstäblich ein neues Weltbild und eine neue Gemeinschaftsmoral entstehen ließen.

Ein typisches Kind des 19. Jahrhunderts

Marx war, wie die Redeweise geht, ein typisches Kind des 19. Jahrhunderts. Er wurde 1818 in Trier als das dritte von neun Kindern in eine bürgerliche Familie hineingeboren. Sein Vater war Anwalt, entstammte einer angesehenen Rabbinerfamilie, musste allerdings unter dem Assimilationsdruck der Regierung zum Protestantismus konvertieren. Karl studierte an mehreren Universitäten und promovierte 1841 zum Doktor der Philosophie. Die preußische Regierung verweigerte ihm aufgrund seiner „subversiven“ – tatsächlich: linkshegelianischen – Überzeugungen die akademische Laufbahn. Damit erst setzte sie eine Lebensgeschichte in Gang, die zum Gelehrten, Geschichtstheoretiker, Ökonomen und Revolutionär führte.

Ein typisches Kind des 19. Jahrhunderts, das hieß auch: Marx waren die grauenhaften Zustände in den damaligen Fabriken, Manufakturen, bei gleichzeitig massiver Arbeitslosigkeit bekannt. Er war Zeuge eines Massenelends, das immer wieder zu Verzweiflungsaufständen führte, die von den Agenten der „Kapitalistenklasse“ mörderisch erstickt wurden. Friedrich Engels, engster Freund und Mitarbeiter von Marx, veröffentlichte 1845 ein Buch mit dem Titel „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Die darin enthaltenen Schilderungen der Profitgier des Bürgertums mussten als schreiende Anklage gegen die Armutszustände im Rahmen der frühen Industrialisierung empfunden werden.

Dass Marx heute vielfach als überholt gilt, hat mannigfache Gründe. Der „Vater“ des Historischen Materialismus erblickte in der gesamten Menschheitsgeschichte nach dem Ende der Stammesgesellschaften eine Abfolge sich verschärfender Ausbeutungsformationen. Herausragend zunächst die Ausbeuterklasse der Sklavenhalter, gefolgt von den Feudalgesellschaften, in denen Adelige und Lehensherren den rechtlosen Bauern die Früchte ihrer Arbeit abpressten, während in den Städten eine ständische Gewaltordnung herrschte, deren Träger die Gilden und Zünfte waren.

Seine Utopie war die klassenlose Gesellschaft

Schließlich erzeugt der Kapitalismus die schärfste Form der Ausbeutung. Da sich die großen Vermögen und Produktionsmittel in den Händen der Bourgeoisie befinden, bleibt den Besitzlosen nur, ihre eigene Arbeitskraft anzubieten, die sie zumeist um einen Hungerlohn verkaufen müssen. Das Zukunftsideal von Marx, seine Utopie, war daher die „klassenlose Gesellschaft“. Darunter verstand er die Selbstverwaltung der „Proletarier“ unter der Bedingung, dass jegliches Privateigentum als Quelle der Bereicherung abzuschaffen sei. Nur auf diese Weise ließe sich nach Marx eine gerechte Gemeinschaft der autonomen Bürger gesellschaftsvertraglich sichern.

Kein Zweifel, viele Ideale des Sozialismus haben ihren Ursprung in der marxistischen Vorstellung des freien, keiner „Entfremdung“ unterliegenden Individuums. Dass alle Menschen gleich seien, dass sie im Gesellschaftsverband die gleichen Rechte und Pflichten hätten, dass die natürliche Würde einer jeden Person gewahrt werden müsse, während keinem Menschen ein natürliches Recht auf Eigentum vor anderen zukomme (auch ein Lehrsatz der katholischen Kirche) – das alles sind sozialistische Ideale, von denen manche den christlichen Tugenden erstaunlich nahekommen.

Am Ende seines monumentalen Werkes „Das Prinzip Hoffnung“ schreibt Ernst Bloch 1954: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Dass Bloch unter „realer Demokratie“ lange, viel zu lange den Stalinismus verstand, gehört zu den intellektuellen Großsünden einer marxistischen Großtradition, die noch in der 68-Generation machtvoll wirkte. Es gab praktisch keine fortschrittliche Sozialpolitik, die nicht auf „linke“ Ideen zurückgegriffen hätte, ob es sich um die Frauen-Emanzipation, den Kampf gegen die Rassendiskriminierung oder die Ausbeutung der Dritten Welt handelte. Gewerkschaften, Kollektivlohn, Krankenversicherung und Pensionsrecht – sie alle sind bekanntlich keine Errungenschaften der Reaktion!

Zentrale Anklagepunkte von Marx sind akueller denn je

Zu sagen, dass vieles an der „Kritik der politischen Ökonomie“ veraltet sei, ist eine Plattitüde. Mit der gebotenen Vorsicht und unter Berücksichtigung einer technologisch und sozial gewandelten Welt ist freilich festzuhalten, dass zentrale Anklagepunkte von Marx an Aktualität kaum eingebüßt haben. Wohl hat der weltweit organisierte Kapitalmarkt diversen Nationen Wohlstand und Reichtum beschert; im Gegenzug blieb allerdings für den Großteil der Menschheit – wir nähern uns der Achtmilliarden-Grenze wenig mehr übrig als Elend, Unbildung, Krieg, Mangelkrankheiten und, allgemein, der tägliche Kampf ums Überleben.

Außerdem hat der Kapitalismus seine Achillesferse nicht eingebüßt. Das „freie Spiel der Kräfte“ macht transnational die Märkte und Börsen zusehends unkontrollierbar. Daraus folgt unter dem Druck eines ständigen Wachstumserfordernisses nicht nur wirtschaftlicher Wohlstand für einige. Zugleich, so konstatieren Fachleute, steigt die Gefahr eines Systemzusammenbruchs mit existenzbedrohenden Folgen für alle.

Als liberaler Demokrat wird man heute kein Marxist sein. Aber wir sollten wieder stärker „marxistisch“ – man könnte auch sagen: urchristlich – denken, wo immer es um Angelegenheiten der sozialen Gerechtigkeit geht. Die Massen werden es sich auf Dauer nicht gefallen lassen, dass wenige Privilegierte am Luxus ersticken, während ganze Völker im Zivilisationsmüll wühlen.