Die Türken haben nun doch Ja gesagt zum Umbau der Türkei in ein Präsidialsystem. Wie deuten Sie das offenbar sehr knappe Wahlergebnis?
KEREM ÖKTEM: Zuerst würde ich einmal sagen, dass die Türken, wenn überhaupt, ein sehr knappes Ja abgegeben haben. Es gibt da sehr viele offene Fragen.

Welche Fragen sind das?
Es gab den ganzen Tag Vorwürfe von Wahlfälschung. Das heißt, die Ergebnisse dieses Referendums sind noch nicht allgemein akzeptiert. Und natürlich stellt sich die große Frage, ob diese Volksbefragung wirklich nach demokratischen Standards ausgerichtet wurde. Was wir auf jeden Fall wissen, ist, dass es im Vorfeld nicht die Gegebenheiten für eine demokratische Wahl gab. Die Türkei steht immer noch unter Ausnahmezustand seit dem vereitelten Putsch vom Juli vergangenen Jahres. Seither sind die demokratischen Grundrechte außer Kraft gesetzt. Trotz dieser undemokratischen Voraussetzungen haben sich fast 50 Prozent der Bevölkerung zu einem Nein durchgerungen und mussten dafür auch zum Teil einiges Risiko eingehen.

Was leiten Sie daraus ab?
Die Frage, was dieses Referendum wirklich bedeutet und wie wir mit dem Ergebnis umzugehen zu haben, wird sich erst in den nächsten Tagen klären. Morgen wird sich die OSZE-Mission, die das Referendum in der Türkei beobachtet hat, dazu äußern, und es ist sehr wichtig, was von dort kommt.

Was könnte nun folgen?
Ich denke, dass die beiden Oppositionsparteien versuchen werden, das Ergebnis beim Hohe Wahlrat anzufechten. Das Ergebnis ist sehr knapp für einen völligen Umbau der Regierungsform des Staates. Das ist auch Erdogan und der Regierungspartei AKP klar. Wenn von den Oppositionsparteien jetzt eine starke Gegenwehr kommt, dann könnte es durchaus sein, dass es vorgezogene Neuwahlen gibt.

Was könnten Neuwahlen nach Erdogans Sieg groß ändern?
Was wir am Referendumsausgang sehen, ist dass sich die Machtverhältnisse in der Türkei verschoben haben. In den großen wichtigen Ballungszentren des Landes – Istanbul, Ankara, Izmir, wo fast 50 Prozent aller Türken leben - zeichnet sich ein ganz klarer Trend gegen die AKP ab. In allen drei Ballungsräumen hat sich beim Referendum das Nein durchgesetzt. Das Referendum an sich wird nicht durch eine Neuwahl verändert. Aber wenn sich der Trend fortsetzt, die AKP weiter Stimmen verliert und es keine AKP-Regierung gibt, dann würden die Inhalte der Volksabstimmung vermutlich nicht sofort umngesetzt werden. Das würde sich mit Sicherheit verzögern. Es sieht also so aus, als ob es mit diesem sehr knappen und umstrittenen Ergebnis wieder ein bisschen Platz für die Herausforderer der Macht von Erdogan gibt.

Wie soll Europa mit dem Ausgang des Referendums umgehen?
Europa hat ja verschiedene Stimmen. Da gibt es eine sehr große Bandbreite. In Großbritannien etwa hat man sich mittlerweile auf absolute Pragmatik eingeschworen. Da geht es vor allem darum, Deals zu machen mit der Türkei und mit allen möglichen anderen Ländern. In Deutschland wiederum schaut man genau aber auch sehr vorsichtig hin. Und dann gibt es Länder wie Österreich, wo man sehr emotional darauf anspringt. Ich denke, dass der deutsche Kurs bislang eigentlich am sinnvollsten gewesen ist: Sich so weit wie möglich zurückhalten und das den internen Prozessen überlassen.

Das Referendum wäre eine Möglichkeit zur Korrektur für die Türkei gewesen, die sich seit Jahren rückwärts bewegt. Eine vertane Chance?
Das würde ich nicht so sagen. Was ich an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen kann, ist, dass es unter demokratischen Voraussetzungen nicht zu einem Ja gekommen wäre. Es gab diesen unglaublichen Druck der AKP, es gab den Krieg in den kurdischen Provinzen, es gab wirklich eine Stimmung, dass fast jeder Neinwähler zum Terroristen oder Nestbeschmutzer erklärt worden ist. Trotzdem haben fast 49 Prozent für Nein gestimmt. Da ist das wichtigste Ergebnis dieser Wahl. Natürlich würde bei einem offiziellen Nein jetzt ein anderer Prozess angehen, aber wir brauchen uns da nichts groß vorzumachen. Auch das Nein hätte nicht die große demokratische Wende herbeigeführt. Die Türkei ist weiterhin in der Krise und diese Krise wird sich weiter verschärfen. Aber es ist relativ klar, dass sich politisch hier etwas geöffnet hat. Das ist nicht das Ergebnis, das sich die AKP erhofft hat. Viele ihrer Vetreter und auch Erdogan haben gesagt, dass sie einen sinngebenden Erfolg wollten. Das heißt, sie wollten mindestens 55 bis 60 Prozent, um sagen zu können, dass die überwältigende Mehrheit des Volkes mit Ja gestimmt hat. Insofern sind die nur 51 Prozent ein ganz eindeutiges Zeichen der Schwäche und das wird auch so in Ankara gesehen.

Heißt das, Erdogan ist weitaus schwächer als es sein Sieg vermuten lassen würde?
Natürlich haben 51 Prozent mit Ja gestimmt. Das ist die Fortsetzung eines Trend, der zeigt, dass die Türkei entlang politischer, kultureller und identitärer Linie zweigeteilt ist. Das ist eine ganz zerrissene politische Landschaft jetzt. Das ist nichts Neues. Das gab es schon vorher. Aber, um eine so große Veränderung des Regimes und der Regierungsform herbeizuführen, hätte man eigentlich mehr gebraucht. Die AKP hat nicht mehr die uneingeschränkte Vormachtstellung in der Türkei, die sie bislang vielleicht gehabt hat. Das ist auch nicht erstaunlich, weil wirtschaftlich und politisch geht es ja nicht wirklich gut voran zurzeit.

Heißt das, in Erdogangs Sieg könnte sein Niedergang schon angelegt sein?
Ja. Nur möchte ich jetzt auch nicht zu viel hier reinlegen. Erdogan ist ein charismatischer Politiker, der Einiges geschafft hat und dafür vom Wahlvolk unterstützt wird. Aber als politisches Herrschaftsprojekt sehe ich die AKP und Erdogan nicht mehr auf dem aufsteigenden Ast.

Über 70 Prozent der in Österreich lebenden Türken haben für Erdogan gestimmt. Das sind weit mehr als in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?
Das hat zum einen damit zu tun, dass die Austrotürken wohl eher mehrheitlich nicht im Hochbildungssegment angesiedelt sind. Zum anderen hat der Umstand, dass Türken und Muslime in der öffentlichen Debatte dauerpräsent sind, wohl zu einer Abkapselung geführt, zu einer Trotzreaktion. Die AKP hat das vorherrschende Gefühl, nicht willkommen zu sein, über ihre Auslandsorganisationen in Österreich, sehr gut aufgenommen. Da wurde sehr gezielt Wahlkampf getrieben. Da muss man schauen, wie man darauf in Österreich reagiert, und zwar nicht nur durch Verbote, sondern, wie man es hinbekommt, dass die Austrotürken das Gefühl haben, dass sie sich ihre Rechte nicht durch Wahlen in der Türkei sondern in Österreich erkämpfen.