Die Frage nach der jüdischen Religiosität ist in dem Land, in dem es keine Trennung von "Kirche" und Staat gibt, geradezu unbeantwortbar, denn: In Israel kann man Jude in einem religiösen oder auch in einem nationalen Sinn sein. Zudem sind alle Kombinationen aus religiöser und nationaler Identität möglich, so dass sich unendlich viele Schattierungen ergeben. Sicher ist aber eines, wie Dan Ashbel, Israels Botschafter in Wien, bestätigt: "Israel ist kein theokratischer Staat, in dem die 80 Prozent Juden eine religiöse Herrschaft ausüben." Der Rest der Israelis sind übrigens Muslime, Drusen, Christen, Bahais . . .

Orthodoxie. Oft wird das orthodoxe Judentum - es ist die einzige vom Staat anerkannte Richtung - als ein monolithischer Block gesehen. Aber auch das stimmt nicht. Sowohl in der Auslegung der göttlichen Gebote, wie auch in Bezug auf politische Ansichten gibt es innerhalb der Orthodoxie enorme Unterschiede. Da gibt es jene, die glauben, auch Teile Jordaniens gehörten zum "Heiligen Land". Zu ihnen im krassen Gegensatz stehen jene Orthodoxen der "Naturei Karta", die sich selbst als "Juden", zugleich aber als "Anti-Zionisten" bezeichnen. Sie glauben nach apokalyptischen Schriften, dass es Gott selbst ist, der am Ende der Zeiten die Juden aus allen "vier Himmelsrichtungen" im Land der Väter zusammenbringen werde. Und dazu braucht er keine zionistischen Helfer.

Keine Statistiken. Auch wenn es keine Statistiken gibt, so dürften im orthodoxen Block etwa 15 Prozent aller Juden Israels organisiert sein. Schätzungsweise 50 Prozent der Staatsbevölkerung sind dem konservativen Judentum zuzurechen. Die Traditionalisten in dieser Gruppe tragen eine Kippa, die Liberaleren nicht. Die einen besuchen relativ regelmäßig die Synagoge, die anderen relativ selten. "Aber viele Konservative finden nichts daran, an einem Shabbat am Vormittag in die Synagoge zu gehen und am Nachmittag mit dem Auto - was religiös verboten ist - zu einem Fußballspiel zu fahren", erläutert Ashbel.

Schwierige politische Einteilung. Viele Europäer bedienen sich auf Grund der schwierigen Strukturierung des religiösen Judentums der politischen Einteilung von "linkem oder rechtem Lager". Auch dies ist nicht zielführend, wie die momentane Koalition zeigt, in der zwei rechte, sich in wichtigen Bereichen ihrer Parteiprogramme widerstreitende Parteien finden. Es sind dies die "Shas" und "Beiteinu Israel" und Avigdor Lieberman. Lieberman will, dass den Orthodoxen das Recht auf die Führung der Standesbücher im Staat entzogen und dieser Bereich säkularisiert wird. Tatsächlich gibt es keine zivile Eheschließung, sondern nur jene vor dem Rabbiner. Die religiöse "Shas" will Liebermans Pläne mit allen Mitteln verhindern, denn für sie ist es ganz wesentlich, dass das Judentum unverfälscht und rein erhalten bleibt.

300.000 Juden aus Russland. Tatsächlich sind seit 1989 mehr als 300.000 Juden aus Russland nach Israel eingewandert, die keine jüdische Mutter haben und deswegen nicht als Juden, sehr wohl aber als Israelis anerkannt werden. Mitglieder dieser Gruppe haben zwei gravierende Nachteile: Sie können nicht heiraten, ja nicht einmal sterben. Denn kein Rabbiner könnte einen Nicht-Juden verheiraten oder beisetzen. Ashbel: "Die meisten Betroffenen heiraten im Ausland. Zurück in Israel, lassen sie sich ihre Ehedokumente bestätigen. Und es gibt neuerdings auch ein paar nicht-konfessionelle Friedhöfe." Die Frage der jüdischen Religiosität ist kaum zu beantworten. Man kann nur die Frage anders stellen, schlägt Botschafter Ashbel vor: "Wie viele Juden praktizieren ihr Judentum in einem der möglichen Aspekte?" Die Antwort ist einfach: Beinahe alle.