Europa hat in seiner Geschichte viele wirtschaftlich schwierige Zeiten durchgemacht. Was macht die gegenwärtige Krise so einzigartig?
JOSÉ MANUEL BARROSO: Diese Krise ist die erste ganz grosse Krise im Zeitalter der Globalisierung. Dabei hat sie das Herz unseres Wirtschaftssystems erfasst: die Finanzwirtschaft. Diese ist wie die Adern im menschlichen Körper. Sind sie verstopft, kann das fatale Folgen haben. Die Gefahr eines Debakels war real. Durch beherztes Handeln konnten wir aber spektakuläre Zusammenbrüche verhindern.

Was sind Ihrer Ansicht nach die tieferen Ursachen der Krise?
BARROSO: Viele machen dafür allein die so genannten "faulen Immobilienkredite" in den USA verantwortlich. Diese spielen in der ganzen Entwicklung tatsächlich eine große Rolle. Sie waren aber letztlich nur der Zünder, der die Bombe zum Detonieren brachte. Die wahren Ursachen liegen tiefer. Sie sind in den Ungleichgewichten innerhalb der amerikanischen Wirtschaft und zwischen den USA und anderen Nationalökonomien zu suchen. In den vergangenen Jahren war es so: Während die Amerikaner glaubten, der Lage mit immer stärkerem Konsum - ermöglicht durch eine offensiv expansionistische Politik billigen Geldes - Herr zu werden, hat die Wirtschaft mit dem größten Wachstum, China, grosse Reserven angehäuft. Ich meine das keineswegs zynisch: Aber hätten die USA einen Stabilitäts-pakt wie wir Europäer, würde es diese Krise wahrscheinlich nicht geben. Dann hätten die Amerikaner gewisse fundamentale Prinzipien beachten müssen, und derartige Ungleichgewichte hätten kaum entstehen können.

Was meinen Sie: Sollen die Verantwortlichen für die Krise zur Rechenschaft gezogen werden?
BARROSO: Wo Pflichtverletzungen vorgekommen sind, stellt sich die Haftungsfrage. Man muss die Schuldfrage aber Fall für Fall prüfen. Was man aber keinesfalls machen sollte, ist, die gesamte Marktwirtschaft zu verteufeln. Mit der Marktwirtschaft verhält es sich nicht anders wie mit der offenen Gesellschaft: Um zu funktionieren, braucht sie Regeln wie in Europa. Ich kenne kein anderes System, das so viel allgemeinen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit gebracht hat wie die soziale Marktwirtschaft in Europa. Wir brauchen in bestimmten Bereichen jedoch bessere und robustere Regeln, im Finanzsektor mehr Transparenz und die nötige Überwachung in Europa und weltweit

Wo sehen Sie eigentlich Ihre Hauptaufgabe in der Krise?
BARROSO: Wenn die EU ein Schiff in stürmischen Gewässern ist, dann sehe ich mich als den Lotsen, der sich mit sicherer Hand darauf konzentriert, das Schiff auf Kurs zu halten und in den Hafen zu bringen.