Nur wer stolz ist, kann sich auch schämen. So emotional wie der Gewaltausbruch am Donnerstag selbst fiel die Reaktion mancher pro-westlicher Belgrader aus. "Wir hätten der Welt unser hübsches Gesicht zeigen sollen", schrieb ein Petar Prezir seiner Zeitung: "Stattdessen haben wir die Hosen heruntergezogen und der Welt unseren dreckigen Hintern entgegengestreckt." Das nationale Selbstwertgefühl, das die Demonstranten beseelte, treibt auch die Demokraten an - nur beide eben in unterschiedliche Richtung. Die Anerkennung des unabhängigen Kosovo lässt beide Lager heftig aufeinanderprallen.

Oberhand. Das anti-westliche Lager hat dabei in diesen Tagen klar die Oberhand. Der liberale Sender B-92 fragte Passanten nach ihrer Meinung zu den Krawallen und bekam immer wieder die gleiche Antwort: Nicht schön sei das gewesen, aber ein "Ausbruch des Volkszorns", über den sich niemand wundern müsse. Auf den Punkt gebracht hat die Stimmung der populäre Minister Velja Ilic, der Mann, der mit Bulldozern aus seiner Heimatstadt Cacak vor sieben Jahren Slobodan Milosevic vertrieb: Das sei "nun einmal auch Demokratie", verteidigte Ilic Übergriffe auf UNO-Kontrollpunkte im Kosovo am Dienstag.

Gefühle nicht anstößig. Dass das Volk seinen Gefühlen freien Lauf lässt, gilt in Serbien traditionell nicht als anstößig. Entstanden in einer blutigen Erhebung gegen die Osmanen, hat die Nation seither immer wieder den Aufstand geprobt: Im Putsch gegen eine Regierung, die mit den Nazis paktieren wollte, aber auch unter Milosevic, der Ende der Achtzigerjahre sein Festhalten am alten Regime als "Revolution" inszenierte. "Das Volk ereignet sich" - mit diesem nebulosen Satz hat der schlaue Politiker seine zahlreichen Gesetzes- und Verfassungsbrüche erfolgreich bemäntelt. Noch der liberale Zoran Djindjic, der Milosevic schließlich - ebenfalls in einem Volksaufstand - bezwang, nutzte nach dessen Sturz die Neigung zum Ausnahmezustand, um Milosevic-Anhänger aus ihren Ämtern zu entfernen. Der kokette Spruch des kroatischen Serbenführers Jovan Raskovic, die Serben seien "ein verrücktes Volk", wird immer noch gern zitiert.

Vorbild Erster Weltkrieg. Zwar sind nach einem Jahrzehnt der Kriege, der Isolation und der Wirtschaftssanktionen heute konstant etwa 70 Prozent der Serben für den Beitritt ihres Landes zur EU. Richtige Herausforderungen hat diese Orientierung aber noch nicht überstanden. Scheitert Serbien, lässt sich eine andere Stimmung reaktivieren: Wir sind uns selbst genug - und kämpfen notfalls gegen die ganze Welt. Vorbild dafür ist der Erste Weltkrieg, in dem das kleine Serbien gegen die benachbarten Großreiche Habsburg und die Osmanen stand. Als einsame Verteidigung gegen eine Übermacht, und nicht etwa als Großmachtstreben, haben die meisten Serben auch die Kriege der Neunzigerjahre in Erinnerung: Es galt, bedrängten serbischen Minderheiten in anderen Republiken beizustehen.