Das Schicksal der oft in bitterer Armut lebenden Roma wird nun zur Chefsache in der Europäischen Union. Nach dem Eklat um die kollektiven Roma-Ausweisungen aus Frankreich sprechen mehrere Staats- und Regierungschefs das Thema beim EU-Sondergipfel am Donnerstag in Brüssel an. "Es betrifft alle Länder Europas. Man muss daher dieses Thema auf die Tagesordnung des EU-Gipfels setzen, damit wir alle gemeinsam darüber sprechen, um eine gemeinsame Position zu finden", sagte der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi im Vorfeld.

Tatsächlich sind die von EU-Justizkommissarin Viviane Reding als "Schande" bezeichneten Ausweisungen tausender Roma aus Frankreich nur die Spitze des Eisbergs. Durch den EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens vor drei Jahren ist das zuvor weitgehend auf Mittel- und Osteuropa beschränkte Problem ins Bewusstsein der westeuropäischen Öffentlichkeit gerückt. In Bulgarien und Rumänien leben schätzungsweise drei Millionen Roma, von denen es viele auf der Suche nach einem besseren Leben in die "alten" EU-Staaten Westeuropas zieht. Diese wollen solcherart entstehende Roma-Siedlungen aber nicht dulden.

Roma-Unterkünfte abgerissen

Frankreich hat seit Jahresbeginn mehr als 8000 Roma aus Rumänien und Bulgarien in ihre Heimatländer ausgeflogen. An vorderster Front bei dieser Art der "Lösung" des Roma-Problems engagiert ist auch Italien, das bevorzugte Ziel von Roma aus Rumänien. Nach der tödlichen Attacke auf eine 47-jährige Italienerin im Jahr 2007 wurden Dutzende angeblich kriminelle Rumänen, hauptsächlich Roma, im Eilverfahren abgeschoben. Die italienische Regierung musste sich damals - so wie Paris jetzt - den Vorwurf gefallen lassen, die Personenfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zu missachten. Zugleich geht Italien mit Vehemenz gegen Roma-Siedlungen vor. Erst im September wurden 100 Roma-Behelfsunterkünfte in Mailand abgerissen. In der Hauptstadt Rom will Bürgermeister Gianni Alemanno 200 illegale Siedlungen von Roma schleifen lassen. Dort leben Schätzungen zufolge 2000 Menschen. Schon vor zwei Jahren hatte die Regierung Berlusconi Dutzende illegale Siedlungen in der Peripherie der Städte Rom, Mailand und Neapel niederreißen lassen. Italiens Innenminister Roberto Maroni beklagte in diesem Zusammenhang, dass viele Roma und Sinti die italienische Staatsbürgerschaft hätten und nicht abgeschoben werden dürften. "Sie haben das Recht zu bleiben, da kann man nichts machen."

Gegen ungeliebte Roma-Einwanderer aus den neuen EU-Staaten machen derzeit auch die als tolerant geltenden skandinavischen Staaten mobil. Im Sommer fanden in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen Aktionen gegen osteuropäische Roma statt. Bei zwei Razzien wurden insgesamt über 40 aus Rumänien und Bulgarien stammende EU-Bürger festgenommen und abgeschoben. Die konservative schwedische Regierung begann ebenfalls mit der Abschiebung von bettelnden Roma. Migrationsminister Tobias Billström begründete die Maßnahme damit, dass Betteln "keine ehrliche Weise" sei, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Laut Medienberichten wurden heuer mindestens 50 Roma aus Schweden abgeschoben. In Finnland wollte Ende Juli die Polizei ein Roma-Zeltlager in Helsinki räumen. Rund 100 Roma verließen das Lager jedoch frühzeitig. Die finnische Regierung erwägt, Betteln im ganzen Land per Gesetz generell zu verbieten.

"Roma-Vertreibung" in Slowenien

In Slowenien sorgte vor vier Jahren eine behördlich sanktionierte "Roma-Vertreibung" für Aufsehen. Die damalige konservative Regierung gab dem wütenden Mob nach und verfrachtete eine 30-köpfige Roma-Familie im Unterkrainer Ort Ambrus in ein Ausländerheim. Bei der Suche nach einem Ersatzquartier für die Familie Strojan erntete die Regierung dann reihenweise Absagen von anderen Gemeinden. Dabei gilt Slowenien gemeinsam mit Österreich oder Spanien als eines der europäischen Vorzeigeländer bei der Roma-Integration. In anderen mittel- und osteuropäischen Ländern müssen die Roma buchstäblich um ihr Leben fürchten. So erschütterte im Vorjahr eine Serie gewaltsamer Anschläge die Roma-Volksgruppe in Ungarn; acht Menschen starben. Hunderte Roma wandten sich daraufhin an die Minderheiten-Selbstverwaltung mit dem Ansuchen, auszuwandern. Zu den beliebtesten Zielländern gehörten dabei jene EU-Staaten, in denen nun Roma-Lager geräumt werden.

In der Slowakei nahmen die Spannungen zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der Minderheiten jüngst ebenfalls zu. In einem Vorort der ostslowakischen Stadt Michalovce errichteten die Bürger eine 500 Meter lange Mauer zur Abgrenzung von einer Roma-Siedlung. Im Jahr 2004 führte die drastische Kürzung der Sozialhilfe durch die damalige konservative Regierung zu wochenlangen Roma-Unruhen. Den tschechischen Roma geht es ebenfalls nicht gut: Kanada führte jüngst eine Visapflicht für Tschechen ein, weil hunderte tschechische Roma dort Asylanträge gestellt hatten.