Die Briten stehen vor der aufregendsten Wahl seit dem zweiten Weltkrieg und einem epochalen Regierungswechsel. Aber mit Sicherheit wird in der Wahlnacht am 6. Mai niemand vor Freude in die Brunnen am Trafalgar Square springen wie 1997, als die Wähler nach 18 Regierungsjahren die Tories hinauswarfen. Eher dürfte am Freitag morgen Ratlosigkeit herrschen. Verfassungshüter haben bereits die seit Menschengedenken geltenden Terminpläne für die feierliche Parlamentseröffnung mit der Thronrede der Königin um eine Woche verschoben, um mehr Zeit für die Regierungsbildung zu geben.

"Vielleicht stimmen wir für eine Revolution. Aber wenn wir es tun, wird es Zufall sein", beschreibt der Politologe Tony Travers von der London School of Economics die Lage. Die Revolution käme auf schleichenden Füßen und trüge den Namen "hung parliament" - ein "hängendes Parlament", in dem keine Partei die klare Mehrheit hat. Die Revolutionäre, vor allem Wähler der von einer Popularitätswoge hochgetragenen Liberaldemokraten, erhoffen sich davon eine in Großbritannien bisher nicht bekannte Regierungsform: Eine "Koalition", in der Konsens und Kompromiss herrschen soll. Dann käme ein neues, faireres Wahlrecht und, unweigerlich damit verbunden, weitreichende Verfassungsänderungen. Genau bedacht, müsste sogar das Unterhaus umgebaut werden, wo sich Regierung und Opposition in klarer Gegnerschhaft gegenüber sitzen – die Architektur des bestehenden Zweiparteiensystems.

Kein Verhältniswahlrecht

Großbritannien hat als einzige Land in Europa kein Verhältniswahlrecht. Im britischen Mehrheitswahlrecht gibt es keine Zweitstimmen, keine Parteilisten. Gewählt ist, wer "first past the post" ist, also mit den meisten Stimmen die Ziellinie erreicht. Alle anderen Stimmen fallen unter den Tisch. In Margaret Thatchers altem Wahlkreis, Finchley in London stimmten 2005 bei der letzten Unterhauswahl 16902 Wähler für Labour. Der Tory Kandidat hatte 31 Stimmen weniger. Insgesamt stimmten 60 Prozent in diesem Wahlkreis nicht für den Labourkandidaten – trotzdem zieht er ins Parlament ein. Dieses "Winner takes all" System führte dazu, dass Labour bei der letzten Unterhauswahl mit 37 Prozent der Stimmen 55 Prozent der Sitze und eine klare Regierungsmehrheit erhielt. Die Tories hatten nur 3 Prozent weniger Stimmen, bekamen aber nur 30 Prozent der Sitze. Die Liberaldemokraten erhielten mit 22 Prozent der Stimmen nur 18 Prozent der Sitze. Deshalb dauert es auch so lange, bis das Wahlergebnis klar ist: Hochrechnungen nützen wenig, wenn in vielen Wahlkreisen ein paar Dutzend Stimmen den Ausschlag geben. 650 Wahlkreise müssen ausgezählt werden, bevor das Ergebnis feststeht, viele zwei Mal, wenn es knapp ist.

Diese Begünstigung der Sieger stabilisiert das Zweiparteiensystem. Stimmen für die dritte Partei gelten als vergeudet. Nach der Wahl kommen die legendär harten Regierungswechsel. Koalitionsverhandlungen sind fast nie nötig. 1997 zog Tony Blair am Morgen nach dem Wahltag unter Jubel in die Downing Street, während hinten die letzten Kisten von Premier John Major in den Möbelwagen gepackt wurden. Die alte Partei geht, eine neue kommt und räumt auf. Keine Partei kann sich dauerhaft im Staatsapparat festsetzen. Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sah neidvoll auf dieses System und seine entschlusskräftigen Regierungen. Briten dagegen haben einen Horror vor dem Parteiengeklüngel und Proporzdenken, das Gesellschaften wie Deutschland und Österreich bis in die unwichtigsten Gremien hinein durchzieht.

Doch das System hat nach und nach an Legitimation verloren. 1951 stimmten 97 Prozent der Wähler für eine der beiden großen Parteien. 2005 waren es nur noch 66 Prozent. Protestwähler, Splitterparteien, Regionalparteien in Wales, Schottland und Nordirland haben das Parteien-Duopol aufgeweicht. In diesem Wahlkampf hat der Überraschungsaufstieg der Liberaldemokraten die Übereinstimmung von Wahlrecht und Parteienlandschaft vollends gesprengt: „Großbritannien hat ein Mehrparteiensystem mit einem Zweiparteien-Wahlrecht. Das muss früher oder später geändert werden", sagt Prof. Travers.

Dazu kommt noch eine andere "Unproportionaltät" im Wahlsystem. Labourwahlkreise sind eher städtisch, haben eine geringe Wahlbeteiligung und weniger Wähler. Tory Wahlkreise sind ländlich, mit mehr und älteren Wählern, die eher zur Wahl gehen: Deshalb brauchen die Tories pro Abgeordneten 8000 Wählerstimmen mehr als Labour. Um am Donnerstag eine Mehrheit zu bkommen, brauchen sie mndestens 8 Prozent mehr Wählerstimmen als Labour.

Deshalb ist die spannendste Frage am Freitag: Was, wenn Labour nach der Anzahl der Stimmen auf dem dritten Platz steht, aber wegen seiner besser verteilten Wähler die meisten Parlamentssitze erhält? Möglich wäre das. Wäre Labour Parteichef Gordon Brown dann noch als Führer der stärksten Partei automatisch Premier? Und wenn Brown das als Niederlage sehen und zurücktreten würde - wen würde die Queen dann mit der Regierungsbildung beauftragen? "Es wird unglaublich kompliziert", so Travers. "Und wir können es uns nicht leisten, dass es lange geht. Das würden die Finanzmärkte angesichts unserer Schulden nicht tolerieren."