Im Oktober 2007 gab ich an dieser Stelle zu bedenken, dass das Mitleid erregende Schicksal des Mädchens Arigona Zogaj uns nicht dazu verleiten dürfe, an die Stelle der Rechtsstaatlichkeit ein Gnadenrecht treten zu lassen, das nichts weiter wäre als Willkür durch Wohlwollen.

Hat eigentlich irgendjemand - so schrieb ich damals -, den jetzt beim Anblick des armen Mädchens aus dem Kosovo die Tränen überwältigen, eine Vorstellung, wie es in einem Delogierten, einem Notstandsempfänger oder einem Gefängnisinsassen ausschaut, in ihm und seiner Familie, falls er noch eine hat? Solche Schicksale gibt es zu Tausenden und Abertausenden in unserem schönen Land. Denn das Menschliche und das Rechtliche sind nicht deckungsgleich. Gesetze formulieren allgemeine Tatbestände und erzeugen dadurch, zumeist ungewollt, menschliche Härten im Einzelfall.

Schmutziges Spiel

Aber kein Rechtsstaat kann auf alle menschliche Not, die durch jedes Recht, auch das gerechteste, erzeugt wird, mit einer permanenten Gnade-vor-Recht-Strategie reagieren. Denn dann hätte er bereits aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein. Wird die Gnade zu einem Instrument des Massenaffekts, dann wird ihre Willkür zur Fratze der Menschlichkeit, die besonders schrecklich jenen erscheinen muss, denen die gutmenschlich erregte Öffentlichkeit kein Wohlwollen gewährt. Man denke nur an die Missgunst, die das Erscheinungsbild von Menschen auslöst, die eine schwarze Hautfarbe haben oder auch nur entfernt an jene Mullahs erinnern, die im Fernsehen Allah lobpreisen.

Ungefähr so argumentierte ich damals und bilde mir ein, ich müsste mich für meine Äußerungen nicht schämen. Und doch fällt es mir schwer, ein Gefühl der Scham gänzlich zu unterdrücken. Denn nicht nur, dass die Repräsentanten unseres Staates es bis heute nicht zuwege brachten, die missliche Lage der Zogajs zu bereinigen. Es wurde mit ihnen ein schmutziges, berechnendes und hinterhältiges Spiel getrieben.

Dem österreichischen Boulevard wurde die Ablehnung des Asylantrags zugespielt, bevor die Zogajs selbst darüber informiert worden waren. Dann wurde von der ÖVP-Innenministerin bestritten, dass jener Pfarrer, der eine Zeitlang Arigona vor der Öffentlichkeit verborgen hielt, aus höchsten ÖVP-Kreisen ersucht worden war, sich um das Mädchen zu kümmern. Dazu kommt, dass die (gewiss nicht unproblematische) Familie seit Jahren von den Medien benützt wurde, um mit ihr Quote und Stimmung in die eine oder andere Richtung zu machen.

Populistische Härte

Nun aber zu dem Aspekt der traurigen Geschichte, die mich am meisten befremdet: Auch die Berufung auf den Rechtsstaat, der ich mich seinerzeit selbst angeschlossen hatte (wofür sonst sollte man in einem Rechtsstaat optieren?), ist mittlerweile zu einem Instrument des Übelwollens geworden. Denn das Argument der Rechtsstaatlichkeit muss nun dafür herhalten, um den rabiaten, zur Rechtsbeugung und zur Verhöhnung des Rechtsstaates aufgelegten Volksverhetzern in Österreich etwas scheinbar Unantastbares entgegenzuhalten: Man instrumentalisiert das Prinzip des Rechtsstaats, um praktisch dieselbe populistische Härte beim "Asylantenproblem" demonstrieren zu können wie die rechtsradikalen Scharfmacher. Dabei gehört "man" - in diesem Fall leider auch "frau" - einer Partei an, die sich aus dem denkbar stärksten Grund, nämlich dem des christlichen Glaubens, der Nächstenliebe ohne Ansehen der Person verpflichtet fühlen sollte.

Was tut man/frau stattdessen? Es wird der Ausweg einer tatbestandsmäßigen Zuerkennung des "humanitären Bleiberechts" nicht in Erwägung gezogen, obwohl es genau dieser Weg ist, der angesichts der Verweildauer, des Integrationsgrades, der bisherigen Behandlungsweise und des Gesundheitszustandes der in Österreich befindlichen Zogajs rechtsstaatlich vertretbar, wenn nicht sogar geboten wäre. Mehrfach hat unsere Innenministerin, der die Parteiräson über alles zu gehen scheint, es ausdrücklich abgelehnt, diese Notbremse der Menschlichkeit ziehen zu wollen. Das allgemeine Kopfschütteln rundum unter den besonnenen Köpfen des Landes, bis hinauf zum Bundespräsidenten, lässt sie jedenfalls nach außen hin ungerührt, während ihr die Parteigranden unterdessen ostentativ den Rücken stärken, was das Durchhalten eines generell harten Kurses in der Asylanten- und Ausländerpolitik betrifft.