Aus Rache für die angebliche Vergewaltigung eines 16-jährigen Mädchens wurde ein Roma-Lager am Stadtrand von Turin in Brand gesteckt Die Rücknahme der Vorwürfe, die das Mädchen nach ihrem ersten Sexualverkehr frei erfunden hatte, kam zu spät.

Eine Gewaltexplosion

Eine Nacht lang kämpfte die Feuerwehr mit den Flammen in Baracken, Wohnwagen und Autos. Die vermutlich aus dem Hooligan-Milieu stammenden Täter hatten zuvor an einem Fackelzug gegen das Roma-Lager teilgenommen. Der Turiner Erzbischof Cesare Nosiglia fühlt sich durch den Brandanschlag "als Bürger und als Christ gedemütigt und verletzt". Innenministerin Annamaria Cancellieri betonte, "nichts, nicht einmal Wut, Ausgrenzung und Vorurteile rechtfertigen, was hier geschehen ist". Der Turiner Staatsanwalt Giancarlo Caselli zeigte sich erschreckt über die "in Turin nie da gewesene Gewaltexplosion" mit rassistischem Hintergrund.

In den vergangenen Jahren kam es in mehreren italienischen Großstädten zu Brandanschlägen auf Roma-Lager. Maximal die Hälfte der bis zu 160.000 Bewohner sind im Besitz der italienischen Staatsbürgerschaft. Traditionell arbeiteten sie als Schausteller oder Altmetallhändler. Doch seit dem politischen Zerfall Jugoslawiens und den 2002 gelockerten Einreisebestimmungen für Rumänen wanderten zahlreiche Roma aus dem Balkan nach Italien ein.

Viele von ihnen verdienen sich mit Geigen- oder Akkordeonmusik in der U-Bahn, als Fensterputzer oder Bettler an Ampelkreuzungen ihren Unterhalt. Laut einer Eurobarometer-Studie stoßen Roma in Italien derweil auf mehr Abneigung als in allen anderen EU-Ländern mit Ausnahme Tschechiens.

Knapp die Hälfte der Italiener möchte keine Roma als Nachbarn; der EU-Durchschnitt liegt bei 24 Prozent. Während viele Roma in Italien unter unmenschlichen Lebensbedingungen in Wohnlagern ohne Strom, Wasser und Kanalisation leiden, leben die jugoslawischstämmigen "Zingari" teils in dritter Generation faktisch als Staatenlose. Nach italienischem Recht erhalten Kinder die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern. Jugoslawien existiert jedoch nicht mehr, und die Nachfolgestaaten erkennen die Roma nicht an.

Menschenunwürdig

Rund 40.000 Menschen pendeln so zwischen Abschiebehaft und neuerlicher Rückkehr in die Illegalität. Das Leben in den Wohnwagenlagern führt nach Angaben der katholischen Laienorganisation "Sant' Egidio" zu einer überdurchschnittlich hohen Säuglingssterblichkeit. Die Lebenserwartung dieser Roma liege im Schnitt 20 Jahre unter dem europäischen Durchschnitt. Für die Misere macht der "Sant'Egidio"-Sprecher Mario Marazziti eine verfehlte Integrationspolitik verantwortlich.

Italienische Regierungen aller Lager hätten vor der Aufgabe versagt, für die Bewohner illegaler Camps menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, für Zugang zu Schulen und Gesundheitsdiensten zu sorgen.

Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi hatte die "nomadi" gar nach der letzten Wahl von 2008 zur sicherheitspolitischen Herausforderung erklärt.