Herr Hessel, warum ist Empörung etwas Kostbares?

STÉPHANE HESSEL: Die Gleichgültigkeit lastet heute schwer auf den Menschen. Gleichgültigkeit gegenüber dem, was um sie herum vorgeht, Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte. Ein guter Job, eine schöne Wohnung, das sind die Dinge, die in unserer Konsumgesellschaft zählen. Alles andere ist unwichtig. Nur kann es das sein? Kann es wirklich so weitergehen? Das ist die Frage, die sich jeder von uns gerade in Krisenzeiten wie diesen stellen muss. Letztlich geht es darum, welche Haltung wir dem Leben gegenüber einnehmen: Stellen wir uns tapfer seinen Herausforderungen oder schieben wir die Dinge einfach von uns weg.

Empörung ist also letztlich eine Frage der Würde?

HESSEL: Ja. Der Mensch erlangt seine Würde nur dann, wenn er das, was ihm an Schlechtem widerfährt, was ihn ins Unglück stürzt oder wütend macht, nicht annimmt. Deshalb ist Empörung ein so wichtiger Moment.

Was unterscheidet Ihre Empörung von blinder Wut?

HESSEL: Das Engagement. Sich zu empören, reicht nicht. Wenn nur Wut da ist, alles zu zerhauen, nützt das niemandem. Empörung ist nur sinnvoll, wenn wir daraus den Auftrag ableiten, die Welt besser zu machen und gerechter. Und es geht auch um das rechte Maß: Sich über das schlechte Wetter zu empören, ist zwecklos. Die richtige Empörung gründet auf verletzten Werten.

Was für Werte sind das?

HESSEL: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Grundwerte der Demokratie. Es sind die Werte, für die die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg gegen die barbarischen Mächte des Nationalsozialismus gekämpft hat.

Das ist lange her.

HESSEL: Ja, es ist Geschichte. So wie die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die Russische Revolution und die Entkolonialisierung. Aber die Werte, die gibt es noch immer. Sie scheinen uns heute nur selbstverständlich. Dabei kommt es auch in den Demokratien des Westens immer wieder vor, dass Regierungen diese Grundwerte dort, wo sie etwa durch die Macht des Geldes unter die Räder kommen, nicht entschlossen genug verteidigen. Gründe, aufzubegehren, gibt es nach wie vor zur Genüge.

Was empört Sie am meisten?

HESSEL: Ich sehe die Menschheit von zwei großen Gefahren bedroht. Die eine ist die weltweite himmelschreiende Ungerechtigkeit bei der Verteilung der materiellen und geistigen Güter und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Die andere ist die Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten und der damit verbundene Kollaps der Weltwirtschaft.

Arm und Reich gab es immer.

HESSEL: Ja, aber nie war der Unterschied so groß. Wir leben in einer Welt, in der es ein paar Millionen Reichen wunderbar geht, während Milliarden Arme um ihr tägliches Überleben kämpfen müssen. Es ist dieses krasse Missverhältnis, das in Nordafrika, Israel, Spanien, Griechenland und New York zurzeit die Jungen auf die Straße treibt. Die Leute sind verunsichert. Sie wissen nicht, was kommt und sind wütend, weil sie sich im Stich gelassen fühlen von den Regierenden.

Hat die etablierte Politik versagt?

HESSEL: Ja, das hat sie. Gerade die gegenwärtige Eurokrise ist das beste Beispiel für die Schwäche und das Unvermögen der Regierenden gegenüber den Finanzmächten. Aber nicht nur das. Auch bei der Erziehung unserer Jugend hat die Politik versagt. Sie hat es verabsäumt, die Jungen darüber aufzuklären, was vor sich geht. Zugleich bringt die Politik kein Verständnis für das auf, was die jungen Leute bewegt. Sie erreicht sie einfach nicht mehr, weiß nicht, was die Jungen sich wünschen. Was bleibt, ist ein ungestilltes Verlangen - das Grundgefühl jeder Empörung.

Warum hören die Jungen eigentlich Ihnen zu?

HESSEL: Sie hören mir zu, weil ich sie wie Menschen behandle, die eine Zukunft haben. Ich stelle mich nicht vor sie hin und jammere: "Oje, alles geht den Bach hinunter." Sondern ich sage ihnen: "Es stimmt, große Gefahren lauern auf euch. Aber ihr seid stark genug und habt das nötige Selbstvertrauen, um diese Bedrohungen zu meistern."

An sich ist das Aufbegehren ein Privileg der Jugend. Sie werden in ein paar Tagen 94 Jahre alt. Woher nehmen Sie Ihre Leidenschaft?

HESSEL: Als Kind wollte ich immer der Bessere sein. Mein älterer Bruder war kränklich. Mir dagegen musste alles gelingen. Das ist im Grunde bis heute so. Und so wollte ich, als ich als kleiner Junge von Berlin nach Paris kam, sofort Franzose werden, ein richtiger, ein patriotischer Franzose. Dann kam der Krieg und ich habe die Konzentrationslager überlebt. Wenn man Buchenwald überlebt, will man Zeugnis ablegen, auch aus Verantwortung denen gegenüber, die nicht überlebt haben. Ich bin jetzt alt genug, in ein paar Jahren werde ich nicht mehr da sein. Eigentlich brauche ich mich nicht mehr zu empören. Aber da ist so ein Gefühl, das sagt mir, dass die anderen aufschreien müssen, die Jüngeren, damit sie nicht in die Situation kommen, in die ich als Junger geraten bin, weil ich mich nicht genügend empört habe.

Sie haben sich als Alter entrüstet und sind zur moralischen Instanz für Millionen junger Leute geworden. Wie ist das für Sie?

HESSEL: Es ist eine große Verantwortung. Und es ist auch ein bisschen gefährlich, weil ich nicht genau weiß, wie die Leute ein Büchlein wie "Empört euch!" lesen. Vielleicht ziehen sie die falschen Schlüsse daraus und begehren gegen Dinge auf, die mir wichtig sind. Aber es gefällt mir, dass die Jüngeren die Botschaft eines alten Mannes annehmen. Macht hat auf mich nie eine verführerische Faszination ausgeübt. Ich bin ein normaler, bescheidener Mensch. Ja, ich nehme für mich nicht einmal in Anspruch, besonders weise zu sein. Was ich den anderen gebe, ist etwas sehr Einfaches. Ich sage den Leuten: "Vorsicht! Demokratie ist etwas sehr Wichtiges, ihr müsst euch dafür einsetzen!" Da muss ich gar nicht lange überlegen.

Kann Moral Politik ersetzen?

HESSEL: Nein, aber Politik kann Ethik auch nicht ersetzen. Wir brauchen die Politik, natürlich, aber eine ethische Politik.

Man wirft Ihnen vor, mit viel Pathos zum Aufstand aufzurufen, aber keine Auswege anzubieten. Was sagen Sie dazu?

HESSEL: Die Kritik ist berechtigt. Es stimmt: Ich benenne die Missstände nur und reise dafür von einer Stadt zur nächsten. Aber ich frage Sie: Ist das Aufzeigen einer Gefahr nicht schon sehr viel? Die Lösungen gibt es ja. Andere bieten sie an. Ich weise gerne auf das Buch des Soziologen Edgar Morin hin. Es heißt "La Voie" - "Der Weg" und gefällt mir sehr.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

HESSEL: Ja, sehr.

Was ist Glück für Sie?

HESSEL: Glück ist für mich nicht nur, mit mir selbst zufrieden zu sein, sondern auch über das Glück der anderen Genugtuung zu empfinden. Ich bin glücklich, weil ich mit einer Frau zusammenlebe, die ich hoffentlich auch zum Glück bringen kann. Ich habe drei Kinder, die glücklich sind. Das macht mich glücklich.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

HESSEL: Nein, für mich ist es sogar wichtig, zu sterben. Ich hoffe, dass es bald geschieht. Natürlich wünsche ich mir einen leichten Tod. Aber zu sterben, heißt für mich, ein Lebenswerk zu Ende zu bringen. Wenn dieses Werk gelungen ist, kann man glücklich sein, dass es zu Ende geht.

Hoffen Sie auf ein Leben danach?

HESSEL: Nein. Ich bin kein gläubiger Mensch, habe keine Vorstellung von einer Nachwelt. Aber der Tod ist für mich nicht nur etwas Negatives. Er ist auch der Eintritt in etwas anderes. Was das andere sein wird, was da auf mich wartet, darauf bin ich gespannt.