Der Westen erwartet sich viel von den Umwälzungen in Tunesien, Ägypten und hoffentlich auch Libyen. Sehen wir hier einen sich modernisierenden Islam, einen Islam im Aufbruch?

MOUHANAD KHORCHIDE: Die Menschen haben protestiert gegen die sozialen Missstände in ihren Ländern. Diese Proteste waren nicht in erster Linie religiös motiviert. Aber die Menschen haben jetzt gesehen, dass es sinnvoll ist, um ihre Rechte zu kämpfen. Ich hoffe, dass sie diese Erfahrung auch auf ihr religiöses Leben übertragen.

Gibt es in diesen Ländern Strömungen, die sich etwa für eine Trennung von Staat und Religion starkmachen?

KHORCHIDE: Das Problem in den islamischen Ländern ist weniger, dass dort die Religionsgemeinschaften die Politik bestimmen, sondern genau umgekehrt: Die Politik versucht, die Religion zu vereinnahmen, um Diktaturen religiös zu legitimieren.

Und das wird sich nun zusehends ändern?

KHORCHIDE: Ja. Es wird nicht mehr gehen, dass die Politik die Religion instrumentalisiert. Die Proteste, die als Sozialproteste begonnen haben, werden auch die religiöse Interpretation des Islam verändern. Aber wir benötigen in den islamischen Ländern nicht die Befreiung der Politik von der Religion, wie das in Mitteleuropa war, sondern die Befreiung der Religion von der Politik.

Im Iran ist es doch eher umgekehrt: Dort hat eine kleine Gruppe von Geistlichen die Politik gekidnappt.

KHORCHIDE: Natürlich. Aber sogar im Iran ist es so, dass das politische Regime die Religion für seine Zwecke nützt.

Aber es ist doch letztlich ein religiöses Regime. Die letzte Macht ist in der Hand der Geistlichen.

KHORCHIDE: Es ist ein Regime mit einer Doppelnatur.

Woher kommt dieser starke politische Einfluss im islamischen Glauben?

KHORCHIDE: Das hat kurz nach dem Tod von Mohammed begonnen. Nach dem vierten Kalifen ist aus dem Kalifat eher ein Königreich geworden. Der damalige Statthalter von Syrien und spätere Kalif Muawija, Begründer der Herrscherdynastie der Omaijaden, war der Erste, der die Macht seinem Sohn vererbt hat. Er hat das religiös begründet, nämlich mit der Prädestinationslehre: Mein Sohn wird Herrscher, weil nur geschieht, was Gott will. Wenn Gott das nicht wollte, würde er es verhindern. Das ist dann in der islamischen Ideengeschichte zur Tradition geworden.

Kann man den Islam als eine Religion leben, die völlig vom Staat getrennt ist?

KHORCHIDE: Das hängt davon ab, wie man den Islam versteht. Es gibt eine Bandbreite an Auslegungen. Wenn wir den Islam als eine Gesetzesreligion sehen, dann hätten wir ein Problem mit der Trennung von Staat und Religion.

Es wäre aber auch eine Interpretation korrekt, die die völlige Trennung vom Staat vorsieht?

KHORCHIDE: Auf jeden Fall. Es ist ja zum Beispiel die Türkei ein laizistischer Staat. Auch in Ländern wie Indonesien oder Malaysia gibt es eine halbwegs funktionierende Demokratie.

Islamische Länder haben jedenfalls mit der Demokratie mehr Probleme als christlich geprägte Länder. Ist das ein historischer Zufall oder gibt es spezifische, in der Religion liegende Gründe? Oder ist, wie man manchmal hört, der Islam eine noch zu junge Religion?

KHORCHIDE: Alle diese Aspekte spielen mit. Es wird schwierig, wenn wir das nur religiös erfassen. Es spielen viele politische und soziale Komplikationen eine starke Rolle. Und natürlich auch der Kolonialismus. Saudi-Arabien oder der Irak vor 2003 sind Länder, wo es lange nicht erwünscht war, dass dort Demokratien eingeführt werden, weil die politisch-wirtschaftlichen Interessen vor allem der USA dadurch gewahrt blieben.

Gibt es jenseits der realen Machtinteressen auch eine spezifisch religiöse Erklärung?

KHORCHIDE: Ja, schon. Ich gehe davon aus, dass die Muslime den Islam zu einem großen Teil auch missverstanden haben, eben als Gesetzesreligion. Solange wir Muslime den Islam auffassen als göttliche Instruktionen, die wir unhinterfragt befolgen müssen, werden wir Probleme mit der Demokratie haben - und mit der Rolle des Menschen als Quelle seiner eigenen Verfassung. Wir benötigen innerislamisch genau das, was jetzt geschieht in Tunesien und Ägypten: eine anthropologische Wende. Also eine Wende Richtung Mensch.

Wir als Mitteleuropäer würden diese Wende schlicht "Aufklärung" nennen.

KHORCHIDE: Klar, es ist eine Aufklärung. Eine Befreiung des Menschen von seiner Bevormundung durch Religion. Was nicht heißt: Verbannung von Religion. Es ist nur ein anderer Blick auf Religion und auf Gott.

Wie hält es der Islam mit der Toleranz etwa von Christen in islamischen Ländern?

KHORCHIDE: Wenn wir den Islam nicht als die einzig gültige Wahrheit auffassen, sondern als einen von vielen Wegen zu Gott, dann wird es keine Probleme geben. Die Muslime müssen die Chance erkennen, durch Kontakte mit anderen Religionen die Welt in ihrer Pluralität zu erfassen. Für den Westen liegt die Chance darin, sich stärker mit dem Islam zu befassen.

Das stößt mitunter auf säkular motivierte Abwehr. Eine Publizistin hat kürzlich erklärt, sie fordere vom Islam nicht mehr, als dass er sie in Ruhe lässt.

KHORCHIDE: Na ja, das bedeutet dann aber, dass wir vieles unter den Teppich kehren und verdrängen. Ich sehe es positiver.

Die Situation gegenseitiger, unmittelbarer Konkurrenz ist gewissermaßen für alle Religionen neu.

KHORCHIDE: Ja, und das bringt eine neue Sicht. Denn in homogenen Gruppen ohne gegenseitigen Kontakt entstehen schnell Absolutheitsansprüche.

Es gab diese Woche zwei Urteile, wonach in Schulen und Kindergärten Kreuze hängen dürfen.

KHORCHIDE: Die Muslime hätten lieber, dass als Zeichen der Anerkennung die Symbole verschiedener Religionen nebeneinander hängen. Aber das hat im Grunde keine religiöse, sondern stärker eine politische Bedeutung. Europa ist gefordert, weil es hier um die Frage der europäischen Identität geht. Diese Frage muss in Europa geklärt werden. Identität ist immer dann gefährlich, wenn sie nur aus der Abgrenzung gegenüber dem anderen besteht.

Ist es für den Muslim leichter, den Christen zu akzeptieren als den Nihilisten?

KHORCHIDE: Ich denke schon. Im Koran ist die Rede von Gläubigen. Es ist daher sicher schwierig, atheistische Menschen anzuerkennen. Und genau da brauchen wir die Wende. Die Frage ist: Geht es um die Überschrift "Ich glaube an Gott" oder geht es um die durch den Glauben vermittelten Werte? Dann ist jeder aufrichtige Mensch guten Willens auf dem richtigen Weg.

Toleranz, Pluralität und Säkularisierung haben dem Christentum eine deutliche Schwächung beschert. Ist das eine Angst, die den Islam zögern lässt?

KHORCHIDE: Das europäische Modell der Säkularisierung ist sicher ein Problem, weil die Muslime beobachten, dass sich immer mehr Menschen von der Kirche distanzieren. Aber das amerikanische Modell führte zu einem anderen Ergebnis, nämlich, dass die Menschen immer religiöser werden. Trennung bedeutet dort nicht Verbannung. Deshalb plädiere ich für eine Neuinterpretation der Säkularisierung im europäischen Raum. Wenn wir Religion weiterhin als einen Gegensatz zur Moderne auffassen, dann wird es schwierig. Denn das gibt auch den Menschen im islamischen Raum mehr Argumente gegen die Säkularität.

Für wie viel Prozent der Muslime ist Ihr Denken repräsentativ?

KHORCHIDE: Es ist eine Minderheit, die immer stärker wird.