Ein Viktor Orban lässt sich so leicht nicht stoppen. Selbst vom rotbraunen Giftschlamm nicht. Schließlich hat der ungarische Regierungschef nichts Geringeres als eine "Revolution" angekündigt. Ungarn werde eine "nationale Wiedergeburt" erleben, tönte er nach dem überwältigenden Wahlsieg seiner nationalkonservativen Partei Fidesz im April. Eine Zweidrittelmehrheit hatte Orban erobert - und sich sogleich ans revolutionäre Werk gemacht. Ein halbes Dutzend Verfassungsänderungen peitschte der 47-jährige Premier bisher durch das von Fidesz beherrschte Parlament. Unter anderem haben die Medien ab sofort die Aufgabe, die "nationale Identität zu stärken" und bis zum Jahresende soll es ein komplett neues Grundgesetz geben.

Anfang Oktober brach dann aber die Giftschlammlawine von Ajka los. Im rotbraunen Morast nördlich des Plattensees gab Ungarns starker Mann ein schwaches Bild ab. Orban zauderte. Erst spät, als der Bürgerzorn bedrohliche Pegelstände erreichte, holte der Rechtspopulist zum publikumswirksamen Schlag gegen die "Industriemafia" aus und verstaatlichte das Unglückswerk in Ajka. Wieder befassten sich die Abgeordneten nur der Form halber mit dem von Orban beschlossenen Vorgang.

Orbans "Blitzkrieg"

Der Budapester Schriftsteller György Konrad spricht von einem "Blitzkrieg", den der Premier entfesselt habe. Demokratische Prinzipien würden ausgehebelt. Andere Kritiker wie der Bürgerrechtler Rudolf Ungvary werfen Orban sogar vor, den Staat nach faschistischen Mustern umgestalten zu wollen.

Tatsächlich hat Ungarn ein unübersehbares Problem am rechten Rand. Die antisemitische, Roma-feindliche "Bewegung für ein besseres Ungarn" (Jobbik) errang in der ersten Runde der Parlamentswahl fast 17 Prozent der Stimmen. Die aus der Partei hervorgegangene "Ungarische Garde" ist zwar seit zwei Jahren verboten. Doch die paramilitärische Organisation, die mit Nazisymbolen arbeitet, ist im Alltag weiter präsent.

Neutrale Beobachter wie der in Budapest geborene Wiener Publizist Paul Lendvai fragen immer drängender: "Was ist los mit diesem Land im Umbruch?" und verweisen auf die fehlende Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit Ungarns, das in den 30er-Jahren und zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit Hitler-Deutschland paktierte. Dieses Versäumnis wirkt in der aktuellen, extrem aufgeheizten Debatte zweifellos nach.

Ein Blick auf die nüchternen ökonomischen Kennziffern verrät mehr über die Wurzeln des Übels. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat Ungarn in seinen Grundfesten erschüttert. Nur die Milliardenkredite der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF) konnten das Land vor dem Staatsbankrott retten. Die Arbeitslosenquote ist von 5,8 Prozent vor zwei Jahren auf 12,5 Prozent in die Höhe geschnellt. Korruption und Schattenwirtschaft blühen. Dennoch hat Orban die Verhandlungen mit dem IWF über weitere Finanzhilfen abgebrochen. Ungarn sei stark genug, sich selbst helfen zu können.

Dieser chauvinistische Eifer hat Europa aufgeschreckt. Im Januar übernimmt Ungarn für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Droht ein Desaster? "Alles Unsinn", sagt Orbans parteiloser Innenstaatssekretär Zoltan Balog im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Vielmehr werde seine Regierung die bessere Integration der Roma in Europa zu einem wichtigen Thema der Ratspräsidentschaft machen.

Wie gefährlich sind Orban und die ungarische Rechte wirklich? Ein halbes Jahr nach dem Regierungsantritt des selbst ernannten Revolutionärs ist nur eines klar: Das ganze Land driftet unübersehbar nach rechts.