Herr Professor, am Freitag werden Eltern und Schüler wieder über Noten diskutieren. Was halten Sie vom sarkastischen Rat eines Ihrer Kollegen, Zeugnisse mit dem Warnhinweis "Noten können die Entwicklung Ihres Kindes gefährden" zu versehen? Starker Tobak oder berechtigte Kritik?

STEFAN HOPMANN: Ja und nein. Natürlich können Noten die Entwicklung von Kindern gefährden. Und natürlich stimmt es, dass Noten auch ungerecht, zufällig, unfair sein können. Die andere Seite ist, dass der prognostische Wert von Noten tatsächlich besser ist als der von Tests. Die Schwierigkeit ist eher, dass Noten einen zu hohen Stellenwert bekommen. Noten können nicht dafür benützt werden, Lebenswege zu entscheiden. Das halten Noten nicht aus. Wenn man den Übergang von der Volksschule oder der Unterstufe von Noten abhängig macht, ist das eine Überstrapazierung der Aussagekraft von Noten.

Eine Aussagekraft, die Noten nicht haben können?

HOPMANN: Kinder haben eine prachtvolle Eigenschaft: Sie können immer noch anders als erwartet. Es ist praktisch nicht möglich, bei einem Neunjährigen oder einem 13-Jährigen abschließende Aussagen zu machen, wofür sie sich eignen oder nicht eignen. Das sind keine Maschinen, das sind junge Menschen, die dabei sind, sich die Welt zu erobern. Da können glänzende Karrieren noch schiefgehen und katastrophale Anfänge zu Blitzkarrieren führen. Das ist das Wunderbare an unseren Kindern, dass sie sich nicht nur von uns allein steuern lassen. Es wäre viel intelligenter, Übergangsentscheidungen nicht von Noten abhängig zu machen, sondern von der vernünftigen Verständigung zwischen Schulen, Eltern und Kindern.

Und Sie glauben, dass das tatsächlich in der Praxis funktionieren würde? Manche Schuldirektoren würden Ihnen da angesichts der Wünsche von Eltern Realitätsferne vorwerfen.

HOPMANN: Wir wissen aus Untersuchungen, dass in 80 Prozent der Fälle die Beteiligten zu einer vernünftigen Entscheidung kommen. Der Rest sind Eltern, deren Kinder nicht für höhere Weihen empfohlen werden und die diese aber unbedingt haben wollen. Da setzen sich Eltern aber immer durch. Grundsätzlich gilt: Je höher der Notendruck, umso weniger taugen Noten, umso wahrscheinlicher werden sie missbraucht. Die Note ist nur ein Teil einer Kommunikation.

Die Botschaft der Zeugnisse ist aber eine andere.

HOPMANN: Ja, deshalb verdient auch ein Schulsystem einen Nachzipf, das Kinder mit einer Nachprüfung in die Ferien schickt. Nach einem langen Schuljahr verlassen sie die Schule mit dem Bescheid, dass sie Lücken haben, und diese sollen sie auf eigene Faust in den Sommerferien ausgleichen. Das ist eine Armutsbescheinigung der Schule. Wenn ich ein Auto aus der Werkstatt abhole, will ich keinen Zettel bekommen, auf dem Reparaturen aufgelistet sind, die ich dann selbst noch ausführen soll.

Was wäre die Lösung?

HOPMANN: Wenn ein Kind Lücken hat, darf es diese nicht ein Jahr lang vor sich hertragen. Dann muss im laufenden Schuljahr daran gearbeitet werden. Das geht aber derzeit nicht, weil wir das Prinzip ein Lehrer, ein Fach, eine Klasse haben. Wir bräuchten einen binnendifferenzierten Unterricht, weil verschiedene Kinder verschiedene Geschwindigkeiten haben.

Die Gliederung in AHS, NMS, Hauptschule wird diesen Geschwindigkeiten nicht gerecht?

HOPMANN: Der Besuch der AHS hat in Österreich nichts mit Leistung zu tun. Der Besuch der AHS oder der Hauptschule ist eine Frage des Geburtsscheins.

Was schlagen Sie vor, damit Ungleichheiten durch das Bildungssystem nicht fortgeschrieben werden? Die Gesamtschule bis 14?

HOPMANN: Das Bildungssystem spiegelt Ungleichheiten wider, aber es erzeugt sie nicht notwendigerweise. Es ist einer der Denkfehler in Österreich zu sagen: Machen wir eine Gesamtschule und dann hört das auf.

Und es hört nicht auf?

HOPMANN: Nein, das Gesamtschulsystem anderer Länder zeigt: Die soziale Trennung ist mindestens so stark, oft aber sogar stärker als in unserem System. Es ist aber eine österreichische Tradition, zu glauben, es gebe den großen Kunstgriff, mit dem sich alles löst. Bis in die 1960er-, 1970er-Jahre hat man das auch noch glauben dürfen. Nur mit der heutigen differenzierten Bildungsforschung über das Gesamtschulsystem und das gegliederte System haben Verfechter beider Seiten nur ein Stück weit recht.

Wie weit haben sie recht?

HOPMANN: Es ist richtig, dass die AHS keine Begabtenschule ist. Aber Länder mit Gesamtschulsystem wie Finnland haben andere Techniken, um Differenz herzustellen. Sie machen es über Programme mit Schwerpunktschulen, die voraussetzen, dass Schüler zwei Instrumente spielen. Raten Sie, aus welchen Familien diese Kinder kommen. Dann gibt es die Differenz über private, kirchliche Schulen. Und es gibt jene über Einzugsgebiete. Die ersten, die sich für die Ergebnisse nationaler Vergleichsteste interessieren, sind in solchen Ländern die Immobilienmakler. In der Umgebung leistungsstarker Schulen sind die Immobilienpreise hoch. Wer nach Helsinki zieht, informiert sich zuerst nach der Schule, um dann die Wohnung zu suchen. Diese Schulen sind dann zusammengesetzt wie bei uns die AHS. Man muss eines wissen: Man kann nicht nicht differenzieren.

Bei Gesamtschulen versuchen Eltern auszubrechen?

HOPMANN: Jedes System führt dazu, dass ressourcenstarke Eltern versuchen, Differenz zu erzeugen. Da spielt es keine Rolle, ob es formal ein Gesamtschulsystem oder ein gegliedertes System gibt. Die soziale Durchmischung ist in manchen Ländern mit formalem Gesamtschulsystem noch um einiges schlechter als in Österreich. Da wird bereits mit der Wahl des Kindergartens entschieden, was ein Kind werden kann. Es ist ein Irrglaube, dass Bildungskarrieren über eine Änderung der Oberflächenstruktur entschieden werden.

Was ist denn für Sie der Hauptgrund für den ideologischen Glaubenskrieg der Parteien in Schulfragen?

HOPMANN: Das hat historische Gründe, denn hinter der Gliederung in AHS und Hauptschule stand eine Klassentrennung. Daraus folgt aber nicht, dass eine andere Organisationsform das Bürgertum daran hindern könnte, auf anderem Weg eine Differenz herzustellen. Das große Problem in Österreich ist Folgendes: Die Weisheit ist seit Maria Theresia am Minoritenplatz begraben. Es wird alles von oben nach unten durchgereicht. Deshalb streiten sie sich auch noch über Schulstrukturen. Sie müssten erkennen, dass wir nicht mehr in der Mitte des 19. Jahrhunderts leben. Aber allen Beteiligten - den Parteien, der Wirtschaft, den Gewerkschaften - fällt es schwer einzusehen, dass sie nicht verhandeln können, was Saba im fünften Bezirk in Wien und Martin in Schladming braucht. Was in einer Klasse funktioniert, ist in der anderen ein Flop.

Wie müsste das Schulsystem umgebaut werden, um mehr soziale Fairness zu gewährleisten?

HOPMANN: Man müsste die Mittelschule so aufstellen, dass besser gefördert werden kann. Aber man hat einfach per Gesetz die Neue Mittelschule zur Regelschule erklärt und damit viele andere Initiativen abgewürgt. Jetzt läuft man herum und stellt entsetzt fest, dass die NMS dasselbe wie die Hauptschule ist.

Aber mit zwei Lehrern in den Hauptgegenständen . . .

HOPMANN: Ja, aber auch das ist eine unausgegorene Idee. Wenn ich bestimmten Kindern helfen will, geht das nur über gezieltes Arbeiten für genau jene Gruppe, die wenig außerschulische Ressourcen hat. Die müssen von uns mehr Ressourcen bekommen. Das setzt voraus, dass Schulen sich auch unterschiedlich aufstellen können. Das Programm und der Stundenplan müssen sich anpassen. Schule ist nie stark genug, soziale Unterschiede auszugleichen, aber Schule könnte stark genug sein, es wenigstens nicht schlimmer zu machen.

Wird es in Österreich schlimmer gemacht?

HOPMANN: Ja, weil wir alle über einen Leisten scheren. Andere Länder wie Norwegen oder Kanada sind da weit erfolgreicher, weil sie anders fördern.

Stichwort Förderung. Tausende Schüler müssen Jahr für Jahr Klassen wiederholen. Was halten Sie von Wiederholungen? Ist es ein nötiges Druckmittel, das manche Schüler brauchen?

HOPMANN: Es gibt keine relevante Forschung, nach der das Sitzenbleiben aus schulischen Gründen vorteilhaft wäre. Es ist meist der Anfang einer Kurve, die nach unten neigt. Sitzenbleiben ist schädlich - im Regelfall, anekdotische Gegenbeweise gibt es ja immer. Auch die Nachprüfungspielereien sind pädagogischer Quatsch, ein Nachzipf gehört ins Kapitel unnotwendiger Sadismus.

Da werden jetzt manche Lehrer den Kopf schütteln . . .

HOPMANN: Zum Teil erklärt es sich durch das System. Es ist nicht unangenehm, sich problematische Schüler auf diese Weise vom Hals zu schaffen. Vielleicht habe ich keinen Nerv mehr, einer Schülerin zum zehnten Mal zu erklären, was ein Genetiv ist. Ich werfe aber niemandem vor, dass er das vorsätzlich macht. Aber so funktionieren unsere psychischen Mechanismen. In Skandinavien gibt es kein Sitzenbleiben aus schulischen Gründen. Wenn ein Druckmittel zwingend erforderlich wäre, müssten diese Länder voll von Schulversagern sein.