Herr Scholl-Latour, die Lage im Irak ist dramatisch: Die Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) überrennt das Land. Sie will einen grenzübergreifenden sunnitischen Gottesstaat errichten. Wie groß sind ihre Aussichten auf Erfolg?

PETER SCHOLL-LATOUR: Den Kern dieses Staates haben die Dschihadisten zwischen Aleppo und Mosul zweifellos schon geschaffen. Sie haben ihren Erfolg allerdings nur erringen können, weil sich neben den sunnitischen Stämmen auch ehemalige Offiziere der irakischen Armee unter Saddam Hussein und Kader seiner Baath-Partei auf ihre Seite geschlagen haben. Saddams Irak war ein säkularer Staat. Die Baath-Partei war säkular und säkular war auch die Armee. Zwischen Saddams weltlich gesinnten früheren Gefolgsleuten und den islamistischen ISIS-Extremisten werden daher früher oder später Spaltungen auftreten.

Wird der Irak zerfallen?

SCHOLL-LATOUR: Das ist faktisch schon so gut wie geschehen. Im erdölreichen Norden herrschen die Kurden. Dann ist da der Irak unter Führung von Premier Nuri al-Maliki. Und den Westen kontrollieren die Dschihadisten.

Welche Rolle spielt der Bürgerkrieg in Syrien für den Zerfall?

SCHOLL-LATOUR: Der Konflikt in Syrien hat den Zerfall des Iraks in Gang gesetzt. Der Krieg, der dort geführt wird, ist ein Stellvertreterkrieg. Nicht nur Amerikaner haben gegen Iraner gespielt. Der Westen insgesamt hatte in Syrien eine abscheuliche Rolle inne. Er hat die Desinformation auf die Spitze getrieben. Baschar al-Assad ist ein schlimmer Diktator und unterdrückt die sunnitische Mehrheitsbevölkerung. Aber das Land war der einzige säkulare arabische Staat in der Region und gegenüber seinen religiösen und ethnischen Minderheiten ziemlich tolerant. Verglichen mit Saudi-Arabien war das ein erträgliches Regime. Aber die Saudis werden vom Westen gehätschelt.

Sie sollen die Dschihadisten im Irak finanzieren. Trifft das zu?

SCHOLL-LATOUR: Das Geld für die ISIS-Kämpfer kommt überwiegend aus Saudi-Arabien und den Emiraten am Persischen Golf. Diese Staaten haben Erdöl in Hülle und Fülle und sind unsere lieben Freunde. Das ist doch die Schweinerei! Dass wir die reaktionärsten Regime unterstützen und in Syrien dann auf die Menschenrechte verweisen. Wir müssen vor dem Rest der Welt als schreckliche Heuchler dastehen, und das sind wir auch! Aber auch der Türkei kommt im Irak eine sehr, sehr dubiose Rolle zu.

Inwiefern tut es das?

SCHOLL-LATOUR: Ich habe das selber an Ort und Stelle beobachten können. Die Grenze der Türkei zu Syrien ist völlig offen. Über die Türkei sind mit Wissen der türkischen Behörden Dschihadisten aus aller Welt nach Syrien gelangt. Das waren Tausende Kämpfer, viel mehr als seinerzeit in Afghanistan, als sich die Gotteskrieger um Osama bin Laden scharten. Das ist eine ganze Armee. Über die Türkei sind auch die Waffen, der Nachschub und das Geld gekommen, um die Aufständischen gegen das syrische Assad-Regime zu unterstützen. Ich weiß nicht, was Ankara sich dabei gedacht hat, als es die Dschihadisten durchgeschleust hat. Denn deren radikale Ideen haben mit den Islamvorstellungen des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdo?an nichts zu tun. Die sind unverträglich miteinander. Für die Türkei könnte sich das alles ungeheuer negativ auswirken. In Mosul sind bereits Dutzende Türken inklusive des Konsuls von Dschihadisten festgesetzt worden. Und wenn die Kurden sich jetzt daranmachen, ihren eigenen souveränen Staat im Nordirak zu errichten, wird das natürlich auf die Kurden in der Türkei abfärben.

Für wie wahrscheinlich halten Sie eine türkische Militärintervention im Nachbarland Irak?

SCHOLL-LATOUR: Der Augenblick, der am günstigsten dafür gewesen wäre, ist schon vorbei. Es würde auch nicht wirklich viel bringen. Was sollen die Türken schon im Irak? Das Osmanische Reich wiederherstellen? Erdo?an würde das sicherlich gerne. Aber das ist Geschichte.

War der Blitzkrieg der Dschihadisten im Irak für Sie absehbar?

SCHOLL-LATOUR: Nein, in dieser Form nicht. Die ISIS ist im Grunde keine wirklich irakische oder syrische Organisation, obwohl an ihrer Spitze ein Iraker steht - Abu Bakr al-Baghdadi. Sie besteht zu wesentlichen Teilen aus ausländischen Kräften, aus Kaukasiern, Pakistanis, Tunesiern, Ägyptern und Europäern. Das sollte man nicht vergessen: In ihren Reihen kämpfen auch ein paar Tausend europäische Dschihadisten.

Was bedeutet das für Europa?

SCHOLL-LATOUR: Es ist eine Gefahr, eine große Gefahr. Die Extremisten aus Europa lernen in Syrien und im Irak zu kämpfen und zu sterben. Und sie lernen, wie man Anschläge verübt, was sie bis jetzt nicht wirklich konnten. Bisher waren alle Terroristen, die in Europa tätig waren, Dilettanten.

Was können Europa und der Westen dagegen tun?

SCHOLL-LATOUR: Nicht viel. Was wollen Sie dagegen tun, wenn sich einer in die Luft sprengt? Gegen Terror gibt es kein probates Mittel. Abgesehen davon sind die Europäer in einem Zustand der Schwäche und der Selbstbemitleidung, der erschreckend ist. Es gibt keine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Die deutsche Bundeswehr ist nicht einmal kampftauglich. Das hat man in Afghanistan gesehen.

Was sind die Gründe für den Erfolg der Dschihadisten im Irak?

SCHOLL-LATOUR: Es handelt sich um Kämpfer, die bereit sind, für ihre Ziele zu sterben. Das sind Mörder, die sich als Gotteskrieger betrachten und alle Schiiten umbringen wollen. Die sind extremistischer als die Al Kaida. Die haben mit Al Kaida nichts zu tun. Die sind ein eigenes Gewächs, dem mit Ausnahme der schiitischen Hisbollah im Libanon alle anderen Kräfte unterlegen sind. Die irakische Armee hat sich auch innerhalb kürzester Zeit aufgelöst. Da waren viele Sunniten darunter, die wollten für den schiitischen Premier al-Maliki nicht gegen Sunniten kämpfen. Die haben alles stehen und liegen lassen und sind auf und davon. Die Amerikaner haben geglaubt, sie hätten im Irak eine starke Armee aufgebaut. Das war ihre Armee! Jetzt sind die modernen Waffen, mit denen sie die Irakis ausgerüstet haben, den islamistischen Terroristen in die Hände gefallen. Wir haben schon einmal derartige Auflösungserscheinungen erlebt. Das war am Ende des Vietnamkriegs, als die Amerikaner das Land fluchtartig verlassen haben. Da haben ein paar Optimisten in den USA und Europa geglaubt, dass die südvietnamesische Armee den Vietcong standhalten wird. Doch sie hat sich binnen drei Tagen aufgelöst. Das war eine Streitkraft von 500.000 Mann, die noch dazu ziemlich gut bewaffnet war.

Ist die Weltmacht USA im Irak kläglich gescheitert?

SCHOLL-LATOUR: Verglichen mit dem Irak war Vietnam für die USA eine große Panne! Der Irak ist da viel schlimmer. Denn Vietnam konnte nicht expandieren. Die Chinesen haben ihn an die Kandare genommen und an der Eroberung von Kambodscha gehindert. Doch um die radikalen Islamisten im Irak zu stoppen, ist Washington jetzt plötzlich auf den Iran angewiesen.

Ausgerechnet die Mullahs, der Erzfeind, sollen den USA nun zur Hilfe eilen. Ist das nicht eine besondere Ironie der Geschichte?

SCHOLL-LATOUR: Die Amerikaner führen seit 35 Jahren einen erpresserischen Sanktionskrieg gegen den Iran. Und jetzt auf einmal wird Teheran zum Verbündeten. Das ist in der Tat ungeheuerlich! Für die USA ist das eine entsetzliche Schlappe. Vielleicht werden sie versuchen, mit Bombardements der Dschihadisten ihre Stellung im Irak einigermaßen zu halten. Und sie werden ungeheuren Druck auf den irakischen Premier al-Maliki ausüben, dass er die Sunniten in die Regierung aufnimmt. Aber die Sunniten müssen bereit dafür sein. Und das sind sie im Moment nicht. Und sollten die Amerikaner al-Maliki absägen wollen, was verständlich wäre, müssten sie wissen, wen sie an seine Stelle setzen. Das alles ist nicht so leicht.

Bleibt also der Iran. Trotz seiner Pläne für eine Atombombe?

SCHOLL-LATOUR: Der Iran ist die "Indispensable Nation", die unentbehrliche Nation für den gesamten Nahen Osten, der letzte stabile Staat und Faktor in der Region, der noch zusammenhält. Das gilt es zu bedenken, statt sich über die iranische Bombe aufzuregen, die noch nicht existiert und vielleicht nie existieren wird. Die Israelis sind in dieser Hinsicht ja total verblendet. Denn selbst wenn es eines Tages die iranische Bombe geben sollte, würde sie nur der Abschreckung dienen, nicht dem Angriff. Sie wäre viel weniger gefährlich als das Arsenal, das Pakistan an Atomwaffen hat. Die wahre Gefahr ist Pakistan, nicht der Iran.