Herr Levi, welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

MARIO LEVI: Das Alte Testament, "Die Brüder Karamasow" und "Tausendundeine Nacht".

Ist das eine Wahl, die Ihre eigene Identität widerspiegelt?

LEVI: Ja, ich bin Jude, habe eine klassische französische Erziehung genossen und lebe in einem muslimischen Land, der Türkei.

Wäre diese Kombination anderswo als in Istanbul möglich?

LEVI: Identität ist nichts, was man sich auswählen kann. Man hat sie. Istanbul ist die einzige Stadt auf der Welt, in der ich leben möchte. Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen und habe nahezu mein ganzes Leben verbracht. Die Stadt hat mich geprägt. Es ist eine Stadt, in der Orient und Okzident zusammenfließen.

Wie muss man sich dieses Zusammenfließen vorstellen?

LEVI: Es begegnet einem auf Schritt und Tritt. Da ist vieles, das mich davon überzeugt, dass Istanbul eine europäische Stadt ist: bestimmte Stadtviertel und Straßen, Geschäfte, Restaurants, Cafés, das Essen, die Kleidung der Leute und ihr Musikgeschmack. Das alles ist Europa. Man merkt, dass Istanbul die Hauptstadt eines großen Reiches war, das stark nach Europa hin orientiert war. Die Osmanen herrschten über große Gebiete auf dem Balkan. Sie haben ihr Imperium als balkanisches Reich betrachtet. Das östliche Mittelmeer, der Mittlere Osten und sogar Anatolien besaßen für sie nicht annähernd so große Bedeutung. Trotzdem ist das orientalische Erbe in der Stadt stark spürbar. Istanbul ist europäisch und auch wieder nicht. Istanbul ist anders. Man kann hier fühlen, was man sonst nirgendwo fühlt. Zugleich bleibt mit der Stadt immer ein Rest von Geheimnis verbunden.

Sie wohnen in Kadiköy, auf der asiatischen Seite des Bosporus. Was bedeutet das für Sie?

LEVI: Man hat Europa ständig vor Augen. Ich erlebe das sehr intensiv, denn ich habe das Privileg, in einem Haus mit Blick auf die Altstadt von Istanbul zu wohnen. Wenn ich aus dem Fenster spähe, dann habe ich die ganze Geschichte der Stadt vor mir.

Zugleich nehmen Sie Abstand.

LEVI: Die Distanz hat für mich keinerlei Bedeutung. Ich nehme die Fähre und gehe zwanzig Minuten später in Europa an Land. Das Meer trennt die Stadt nicht, es vereint ihre beiden Hälften.

Welche Ihrer Welten zieht Sie mehr an: Orient oder Okzident?

LEVI: Ich fühle mich in beiden zu Hause. Doch um ehrlich zu sein: Der Westen liegt mir näher. Das hat mit meinen Vorlieben zu tun, mit meiner kulturellen Prägung. Meine Vorfahren waren sephardische Juden, die im Jahr 1492 aus Spanien vertrieben worden sind. Bei uns zu Hause wurden Französisch und Ladino gesprochen, das mittelalterliche Juden-Spanisch. Meine Großmutter hat es mir beigebracht. Sie sprach zwar Türkisch, aber nicht sehr fließend und mit starkem Akzent.

Was war das für eine Welt?

LEVI: Es war ein eigenes Universum, gekennzeichnet durch die Sprache, das Ladino, die Küche, die Religion und eine starke Bindung an Europa. Es war eine geschlossene Welt, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Noch in den 1920er-Jahren lebten in Istanbul 80.000 sephardische Juden. Heute sind es nur mehr 19.000. Die Sprache verschwindet. Die Jungen können kein Ladino mehr. Sie sprechen nur noch Türkisch.

Welche Bedeutung hatte Europa für die Sepharden?

LEVI: Die Sepharden sahen sich als Europäer. Es waren gebildete Leute, die großen Wert auf die Erziehung ihrer Kinder legten. Ihre Schulen waren jüdisch, aber mit französischer Unterrichtssprache und französischem Bildungskanon. Das prägt. Auch mich. Wenn man in der Schule Gedichte von Victor Hugo auswendig lernt und die Fabeln von La Fontaine liest, beginnt man, sich dem Westen verbunden zu fühlen. Ich erinnere mich gut an den Kulturschock, als ich auf dem Lycée Rousseau und Voltaire entdeckt habe mit ihrer schonungslosen Kritik an der Religion. Ich war ja religiös erzogen worden.

Gab es auch Momente, in denen Sie sich zwischen Orient und Okzident zerrissen gefühlt haben?

LEVI: Zerrissenheit? Nein. Aber ein Gefühl, anders zu sein, das habe ich immer empfunden. Das beginnt mit meinem Namen. Welcher Türke heißt Mario? Man merkt mit der Zeit, dass man einer anderen Existenz angehört. Das war schwierig für mich. Ich habe von meiner Großmutter erzählt. Sie hatte vier Schwestern, mit denen sie sich gern auf der Straße traf und laut Ladino sprach. Ich war sechs Jahre alt, wäre am liebsten im Boden versunken. Ich wollte keiner Minderheit angehören. Ich wollte ein hundertprozentiger Türke sein. Das war der Grund, warum ich sehr gut Türkisch gelernt habe. Ich schreibe alle Bücher auf Türkisch und bezeichne mich auch als türkischen Autor. Das ist mir wichtig.

Das Anderssein hatte im Rückblick also auch sein Gutes?

LEVI: Ich wäre nicht Schriftsteller geworden, hätte ich nicht als Kind gelernt, auf meine Sprache zu achten. Man wird vorsichtiger und introvertierter und entwickelt später als die anderen Mut. Erst mit der Zeit ist mir bewusst geworden, dass ich mich meiner Großmutter nicht hätte schämen müssen. Heute bin ich stolz auf meine sephardischen Wurzeln.

Wir sprechen über Identität und fließende Grenzen. Wo liegen für Sie die Grenzen Europas?

LEVI: Das ist eine schwierige Frage. Innerhalb der Türkei, würde ich sagen, reicht Europa bis Ankara. Aber das ist nicht der Punkt. Die eigentliche Frage sollte lauten: Wo ist Europa? Wir alle wissen, dass es Länder gibt, die sich nicht groß von der Türkei unterscheiden, aber trotzdem Teil Europas sind. Bulgarien, Rumänien und Griechenland sind Mitglieder der Europäischen Union. Aber ich frage Sie: Sind es auch die Länder, die Europa geformt haben? Ähnliches gilt für Skandinavien, ja selbst für Großbritannien, das von Europa als dem "Kontinent" spricht? Gehört England wirklich zu Europa? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ein Land wie Frankreich Europa geprägt hat. Mit der Französischen Revolution. Italien wiederum hatte die Renaissance, Deutschland die Reformation.

Sie definieren Europa über seine Kultur und Geschichte. Was ist mit der Politik? Soll die Türkei zur EU?

LEVI: Das Europa, von dem ich spreche, hat mit Geografie nichts zu tun. Europa ist für mich seine Geschichte, Literatur und Musik, seine Malerei und Philosophie. Ich wünsche mir, dass die Türkei eines Tages der EU beitritt. Leider laufen die Dinge schlecht. Vor 15 Jahren haben viele Türken von Europa geträumt. Inzwischen hat sich das Gefühl breitgemacht, unerwünscht zu sein.

Was ist schiefgelaufen?

LEVI: Viele Türken glauben, es habe damit zu tun hat, dass ihr Land islamisch und die EU ein Christenklub ist. Ich glaube dagegen, dass die Türkei noch wichtige demokratische Aufgaben erledigen muss. Das gilt aber auch für Europa. Es steckt nicht nur ökonomisch in der Krise. Die EU kämpft gegen starke nationalistische Kräfte: Italiens Norden will sich vom Süden abspalten, Katalonien von Spanien, die Flamen wollen nichts von den Wallonen wissen. Das alles widerspricht dem europäischen Ideal einer Union ohne Grenzen. Aber ich bin Optimist. Ich vereine so viele Identitäten in mir und kann sie alle in Einklang bringen. Ich bin mir sicher, die Dinge werden sich auch in Europa wieder zum Guten wandeln.