MICHAEL FLEISCHHACKER: "Putin-Versteher" hat als Begriff eine ziemlich rasante Karriere gemacht. Er bedeutet ungefähr so viel wie rechts- oder linksradikales Ekel mit nationalistischem Grunddefekt, angereichert um großmachtsüchtige Neurosen. Das ist wohl auch der Grund für diese begriffliche Bilderbuchkarriere: Man hat beide ideologischen Extreme damit abgedeckt und kann es sich in der moralisch selbstgewissen Mitte kuschelig einrichten. Solange das geronnene Böse im Kreml west, sind draußen alle die Guten. Was wollen wir mehr?

ARMIN THURNHER: Oje, wo wird das hinführen, wenn wir uns schon am Anfang einig sind? Dass Komposita mit -Versteher jetzt zu Modewörtern wurden, kann einen ein bisschen besorgt machen. Wenn die ersten Verständnis-Versteher auftauchen, konsultiere ich vorsichtshalber einen Psychotherapeuten, also einen Mich-Versteher. Aber es richtet mich wieder auf, dass Sie gleich im ersten Streich eine politische Frage zu einer moralischen erklären. Die Schwierigkeit scheint mir aber zu sein, dass wir wieder einmal in einen globalen Konflikt embedded werden und dass uns, aufgrund mangelnder Globalisierung, die russische Seite dieses Konflikts doch etwas weniger zugänglich ist als die amerikanische.

FLEISCHHACKER: Vielleicht kann ich Ihren Bedarf an Nicht-Übereinstimmung wenigstens in Spurenelementen decken: Ich glaube nicht, dass die Asymmetrie im Verständnis mit einem Mangel an Globalisierung erklärt werden kann. Eher sehe ich so etwas wie einen geopolitischen Entwöhnungsprozess des Westens. Die Europäer faseln seit eineinhalb Jahrzehnten von "soft power", ohne das Konzept je verstanden zu haben: Joseph Nye, sein Schöpfer, hatte immer betont, dass "soft power" militärische Einsatzbereitschaft niemals ersetzen, sondern immer nur ergänzen kann. Und die Amerikaner kurieren ihre Überdehnungsschmerzen. Damit haben derzeit jene ein geopolitisches Monopol, die wir nicht so gut verstehen.

THURNHER: Ah, da haben wir sie ja, unsere Dissidenz. Die Europäer haben keine Politik, nur Akteure, die durch ihr Handeln das ganze schöne Europa diskreditieren. Weil die sogenannte Außenministerin offenbar versagt, erleben wir isolierte Aktionen einzelner Außenminister. Was haben die für ein Mandat?, möchte man gern wissen. Dafür machen die Amerikaner kein Hehl aus ihren Großmachtinteressen, der CIA-Chef ist regelmäßiger Gast in Kiew. Destabilisierung Russlands, vielleicht sogar einer russisch-europäischen Zusammenarbeit, Ausdehnung des Nato-Gebiets an die ukrainische Ostgrenze, darum geht's. Das ist natürlich auch nach außen gewendete US-Innenpolitik, aber Überdehnungsschmerzen?

FLEISCHHACKER: Ja, Überdehnungsschmerz. Es tut noch immer weh, Obama beißt die Zähne zusammen, Kerry jammert. Selbstverständlich haben die USA Interessen, hoffentlich ist die CIA in Kiew ähnlich gut vernetzt wie der russische Geheimdienst. Und natürlich geht es darum, den eigenen Einfluss möglichst auszudehnen und den der Russen möglichst an der Ausbreitung zu hindern - aber sie haben die geopolitische Sprache verloren. Die Europäer hatten da nichts zu verlieren, weil sie ohnehin geopolitische Analphabeten sind. Das Einzige, was helfen könnte, sind die von Ihnen so verachteten "Einzelaktionen" von Deutschen und Franzosen. Würden die europäischen Großmächte die Großmachtpolitik noch beherrschen, sähe die Sache anders aus. Aber das außenpolitische Eunuchentum gehört inzwischen zum europäischen Selbstverständnis.

THURNHER: Sie meinen, Putin bohrt in der schlecht vernarbten europäischen Männlichkeitswunde zwischen unseren Beinen? Kann sein, dass er deshalb ostentativ erlegte Tiere herzeigt und seinen Oberkörper so gern entblößt. Ich weiß schon, dass wir auf die Schnelle keine europäische Außenpolitik bekommen, aber mir missfällt der strukturelle Umweg, auf den wir geraten, indem wir uns von ihr entfernen. Zu Recht kritisieren wir das Oligarchentum in Russland und der Ukraine (über das wir viel zu wenig wissen, sonst würden wir den Konflikt besser verstehen). Und dann schauen wir zu, wie unsere Politiker ohne demokratisches Mandat nach nationaler Lust und internationaler Konzernlaune unter US-amerikanischer Hegemonie agieren. Da könnte man beinahe anfangen, Putin zu verstehen.

FLEISCHHACKER: Sie sprechen damit den wichtigsten Grund für die auf den ersten Blick überraschend freundliche Einschätzung des aktuellen russischen Westfeldzugs an: Bis nach ganz weit links und bis nach ganz weit rechts herrscht offenbar die Überzeugung, dass der amerikanische Wirtschafts- und Kulturimperialismus das aggressivste Moment globaler Politik darstelle und daher zu Recht von Zeit zu Zeit herausgefordert werde, nun eben von den Russen, weil wir Europäer zu unterwürfig geworden seien. Ich hatte eigentlich gedacht, dass seit den 80er-Jahren jeder Pflichtschulabsolvent über die Lächerlichkeit dieser Verschwörungstheorie Bescheid weiß. Aber ich habe mich, wie so oft, getäuscht.

THURNHER: Also wissen Sie: Verschwörungstheorien, sagte mir ein kluger Politiker vor Kurzem, sind die Grundlage aller Politik. Ein paar Leute verschwören sich untereinander, gewisse Dinge zu tun. Und zu den Pflichtabschulabsolventen würde ich Herren vom Kaliber Zbigniew Brzezi´nski, Henry Kissinger oder Robert Kaplan zählen. Noch so ein Volksschülerfakt: 40 Prozent aller Rüstungsausgaben gehen weltweit auf Kosten der USA, 10 Prozent auf die Chinas und 5,5 Prozent auf die Russlands. Weiß schon, und ohne Ironie, das geschah und geschieht zu unserem Besten. Teilweise. Teilweise aber zum Besten der USA. Damit kann man uns natürlich nicht zum Besten halten! Die USA verstehen wir stillschweigend, Putin nur dann, wenn sich seine mit unseren Interessen decken (Liftbau in Sotschi und so).

FLEISCHHACKER: Wir verstehen immer nur die, deren Interessen wir gerade teilen, nicht nur in der Weltpolitik, sondern auch im wirklichen Leben. Dass wir Österreicher auch außenpolitisch eine besonders lachhafte Spielart der europäischen Trittbrettfahrermentalität entwickelt haben, wird Sie genau so wenig wundern wie mich. In einem Land, in dem man den für den Unabhängigsten hält, der mit allen verhabert ist, muss einen nicht wundern, dass Neutralität auch außenpolitisch als paritätische Enddarmakrobatik missverstanden wird.

THURNHER: Dieses Fass (das mit der Neutralität drin) machen wir jetzt nicht mehr auf. Und schauen wir einmal, um versöhnlich zu enden, ob nicht unser neuer Außenminister so etwas wie eine österreichische Außenpolitik entwickelt. Wie man hört, reist er ja viel und, anders als sein Vorgänger, nicht nur zum Papst. Wenn sich schon unser Putin-Verständnis nicht bessert, bekommen wir vielleicht doch noch eine neue europäische Perspektive. Und damit ein besseres Selbstverständnis.