Wenn zuletzt über Europa geredet wurde, war das fast einhellige Urteil: Es reiche nicht mehr, den Jungen die EU als "Friedensprojekt" zu verkaufen, als Lehre aus zwei Weltkriegen. Man brauche eine neue "Erzählung", um für Europa zu begeistern. Doch brauchte z. B. Kanzlerin Angela Merkel am Dienstag bei ihrer EU-Wahltour keine vier Minuten, bis sie bei den Weltkriegen landete - und der Ukraine.

Die Krise um die Zukunft des osteuropäischen Landes könnte sich zum zentralen Thema des Europawahlkampfs entwickeln. Denn plötzlich geht es wieder um Krieg und Frieden. Dies könnte nach Meinung der Parteien und Meinungsforscher Auswirkungen auf den Ausgang der Europawahlen haben: Die eurokritischen Parteien könnten geschwächt, die etablierten Europafreunde gestärkt werden.

Menschen werden nachdenklich

"Mein Eindruck ist, dass die scharfen Polemiken gegen die EU deutlich weniger werden. Viele Menschen scheinen angesichts der besorgniserregenden Lage in der Ukraine sehr nachdenklich zu werden", sagte etwa David McAllister, deutscher Spitzenkandidat der CDU, zu Reuters. SPD-Wahlkampfmanager Matthias Machnig sieht dies ähnlich: "Die Debatte um die Ukraine hat noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass es einen Stabilitätsfaktor, ein Friedensprojekt Europa gibt", sagte er vor kurzem in Berlin. Die Volksparteien berichten, dass die Zahl der üblichen Hassmails gegen die EU abnehme.

Bei der europaweit ausgestrahlten TV-Debatte der Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien war die Ukraine am Montag eines der wichtigen Themen. Und an den ersten Wahlkampfreden von Merkel zeigte sich ebenfalls, wie stark die Außenpolitik plötzlich wieder in den Vordergrund dessen rückt, was die Experten "europäische Erzählung" nennen. Fast ein Viertel ihrer Redezeit widmete Merkel diesem Thema.

"Die ganze Sache mit der Ukraine zeigt uns, in welcher Freiheit und mit welchen Möglichkeiten wir in der EU leben. Allein dafür brauchen wir Europa",so Merkel beim Start ihrer Wahlkampftour in Güstrow. Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz - europäischer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten - und die Grünen betonen, dass die EU trotz aller Fehler gerade für die Menschen in Osteuropa Symbol eines erstrebenswerten Lebensmodells sei.

Schlecht für Anti-EU-Parteien

Die Frage ist, wem das Thema bei der Europawahl am Ende nutzt. Es gebe darüber noch keine Erkenntnisse, meint Oliver Krieg, Chef des Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid. Aber er vermutet, dass das Thema Ukraine auf die Anti-Euro-Parteien eher dämpfend wirke, unter anderem weil die EU derzeit als Faktor der Stabilität wahrgenommen werde. Die von der AfD forcierten Themen wie Euro oder Einwanderung träten dagegen in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund. CDU und SPD glauben, dass sie beide profitieren werden. Denn neben Merkel hat auch der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier als Außenminister ein sehr starkes Profil in der Ukraine-Krise.

Als offen sieht TNS-Emnid-Chef Krieg die Frage, wie sich die Ukraine-Krise in den anderen EU-Staaten auf die oft sehr viel radikaleren Anti-Europäer von rechts bis links auswirken wird. Auffallend ist jedenfalls die inhaltliche Nähe mancher Rechtspopulisten zur russischen Regierung. So machte etwa der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders Mitte April die EU für die Ukraine-Krise verantwortlich, weil sie dem Land überhaupt eine Annäherung angeboten habe. Der Chef der antieuropäischen UKIP-Partei in Großbritannien, Nigel Farage, bezeichnete Putin als den Politiker, den er am meisten bewundere. Mit der Geiselnahme internationaler OSZE-Beobachter durch schwer bewaffnete pro-russische Separatisten könnte sich die Stimmung zumindest in den Ländern aber drehen, aus denen die Festgesetzten stammen - also neben Deutschland auch Tschechien, Polen, Schweden und Dänemark.