F rau Ramsauer, ein Gericht in Ägypten hat dieser Tage 529 Anhänger der Muslimbruderschaft zum Tode verurteilt. Ist das die endgültige Bankrotterklärung der arabischen Revolution?

PETRA RAMSAUER: Es ist ein weiterer massiver Rückschlag. Es zeigt, dass eine der wichtigsten Forderungen der Menschen, die diese doch sehr riskante Revolution gewagt haben, bis dato nicht im Entferntesten erfüllt ist. Es geht um ?Würde'. Diese Schnellurteile sind ein grober Verstoß gegen die Menschenrechte. Es ist, als wäre Ägypten mit einem Schlag um Jahrzehnte zurückkatapultiert worden.

Was geht vor im Land am Nil?

RAMSAUER: Wir erleben die Eskalation eines uralten Konflikts, der das Land seit Jahrzehnten unterminiert. Die Muslimbruderschaft und die Armee gelten als zwei Staaten im Staat; zwei Männerbünde, die um die Macht ringen, jenseits von Kasernen und Moscheen. Das Militär etwa dürfte bis zu einem Fünftel der ägyptischen Wirtschaft und große Teile der Landwirtschaft kontrollieren. Ähnlich einflussreich ist die Bruderschaft, die viele Millionäre in ihren Reihen hat, in deren Besitz unter anderem Hotelketten am Roten Meer sind. Dieser Konflikt spiegelt eine tiefe Spaltung Ägyptens wider, eine Bruchlinie, die durch viele arabische Staaten geht: zwischen nationalistischen und islamistischen Strömungen. Dieser Konflikt spitzt sich nun gefährlich zu und fordert Tausende Tote.

Ist das Land dabei, nach einem kurzen demokratischen Intermezzo von einer Diktatur in die nächste zu gleiten?

RAMSAUER: Das wird sich erst nach den anstehenden Präsidentenwahlen sagen lassen. Angesichts der jüngsten Ereignisse stellt sich aber die Frage, ob wir die Zeitspanne zwischen 2011 und 2014 überhaupt als demokratisches Intermezzo bezeichnen können. In Wahrheit wurde nur der "Kopf" des Systems Mubaraks entfernt; die Strukturen änderten sich nicht oder nur kaum.

Dabei hätten es die Muslimbrüder in der Hand gehabt. Warum haben sie ihren triumphalen Sieg bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen in Ägypten im Juni 2012 so dilettantisch verspielt?

RAMSAUER: Auch die Muslimbrüder haben sich nach der Revolution von 2011 nicht verändert. Die politische Partei der Bruderschaft hätte den Dialog suchen müssen, wie ihre "Bruderpartei" in Tunesien es zum Teil erfolgreich getan hat. Stattdessen agierte sie intransparent und ist dem treu geblieben, was sie in Jahrzehnten der Unterdrückung und Verfolgung internalisiert hatte. Ihre Führer haben den anderen politischen Kräften misstraut und zum Teil rücksichtslos ihre Agenda der Islamisierung durchgesetzt.

Ist den Muslimbrüdern überhaupt je an einem demokratischen Wandel gelegen oder wollten sie in Ägypten von Anfang an einen Gottesstaat errichten?

RAMSAUER: Ich wäre mit dem Begriff "Gottesstaat" vorsichtig.

Warum wären Sie das?

RAMSAUER: Muslimbrüder sind selten Prediger, sondern oft Ärzte, Juristen oder Naturwissenschaftler. Richtig ist, dass sie unter Präsident Mohammed Mursi sehr gezielt eine Islamisierung Ägyptens angestrebt haben, statt sich dringenden wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu widmen. Aus Protest über diesen konservativen Kurs haben sich sogar einige prominente Mitglieder von der Bruderschaft losgesagt. Eine der Gruppen ist gerade dabei, im Untergrund und im Londoner Exil die "Bruderschaft neu" zu formieren, mit dem Ziel, eine islamische Gruppierung nach dem Vorbild christlich-sozialer Parteien zu werden.

Zugleich ist die extremistische Hamas in Palästina eine Tochter der Muslimbruderschaft. Wie radikal ist die Bewegung wirklich?

RAMSAUER: Die ägyptische Bruderschaft hat an sich bereits in den ersten Satzungen der Organisation, die ja schon 1928 gegründete wurde, einen klaren Gewaltverzicht ausgesprochen. Parallel dazu gab es aber bereits in den 1930er-Jahren einen militanten Flügel, der Attentate verübte und Freiwillige in den ersten israelisch-arabischen Konflikt, 1948, schickte. Später haben sich weitere extremistische Elemente abgespalten, die zur Basis der Al Kaida wurden. Dies geschah als Folge einer Repressionswelle unter Präsident Gamal Abdel Nasser ab dem Jahr 1954, deren Härte mit der heutigen zu vergleichen ist, geprägt von Massenverhaftungen und Todesurteilen. Auch deshalb ist die aktuelle Entwicklung so besorgniserregend.

Nasser ist es nicht gelungen, die Muslimbrüder auszuradieren. Werden sie auch den aktuellen Machtkampf überleben?

RAMSAUER: Die Muslimbrüder, mit denen ich sprach, betonten immer wieder: Sie hätten Nasser überstanden, sie hätten auch die zum Teil massive Unterdrückung durch Mubarak überstanden. Daher würden sie auch die heutige Unterdrückung überleben.

Woher beziehen sie ihre Kraft?

RAMSAUER: Die Bruderschaft ist wie ein Kult organisiert. Mitglieder unterlaufen einen mehrjährigen Aufnahmeprozess. Das schottet sie gegen Infiltration ab. Wer Mitglied ist, unterwirft sich gänzlich der Organisation. Dazu legt sie Wert auf Breitenwirkung, vor allem durch karitatives Engagement. Zuletzt betreute die Gruppe zwei Millionen Patienten in ihrem Gesundheitssystem. Das verhalf ihr zu großer Popularität unter den vielen Not leidenden Menschen. 40 Prozent der 82 Millionen Ägypter leben unter der Armutsgrenze. Ein Teil der Bevölkerung unterstützt sie auch aus Dankbarkeit. Man geht davon aus, dass sie eine Million ?echte' Mitglieder hat, dazu gibt es das Vielfache an Sympathisanten. Es ist dieses Konzept, dass ihre Mitglieder quasi als Modelle eines perfekten, ?guten' Menschen agieren sollen. Das ist ihr wichtigstes Missionsinstrument und der Ursprung ihres Mythos.

Sie sprechen von Mission. Was ist das Ziel der Muslimbrüder?

RAMSAUER: Ihr vorrangiges Ziel war seit 1928 ein alternatives Modell zur westlichen Ordnung, ein gemeinsames Reich aller Muslime zu schaffen. Das klingt utopisch, war aber in der Gründungsära eine logische Reaktion auf die damaligen Ereignisse. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches endete auch das Kalifat und es gab keine Führungsfigur der sunnitischen Muslime mehr. Viele fühlten sich vom Westen besiegt, erniedrigt. Und so war es kein Zufall, dass die Bruderschaft 1928 in der Stadt Ismailia entstand, wo französische und britische Unternehmen den lukrativen Suez-Kanal betrieben und die ägyptischen Lohnarbeiter ausbeuteten. Sechs solcher Arbeiter gründeten dann mit dem Volksschullehrer Hassan al-Banna die erste Gruppe der Muslimbrüder. Heute ist die Bruderschaft die weltweit größte Bewegung des politischen Islam mit einem globalen Netzwerk.

Was, wenn sich die Lage im Mutterland der Bruderschaft zuspitzt? Droht am Nil ein Bürgerkrieg?

RAMSAUER: Die Gefahr ist groß. Jene Teile der Bewegung, die für eine militante Reaktion auf das Vorgehen der Armee plädieren, drohen Oberhand zu gewinnen.

Ist nach allem, was vorgefallen ist, eine Versöhnung der verfeindeten Lager in Ägypten möglich?

RAMSAUER: Das Land steht vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Nur ein Dialog zwischen Islamisten und dem Militär wird Ägypten zurück auf den Weg der Stabilität bringen. Das müssen insbesondere jene begreifen, die mit brachialer Gewalt und Hunderten Todesurteilen die Gewaltspirale weiter anheizen.

INTERVIEW: STEFAN WINKLER