Die Anschläge in Südrussland werfen ein Schlaglicht auf den fast vergessenen Konflikt im Nordkaukasus. Seit langem drohen Islamisten, Olympia in Sotschi zu verhindern. Doch die schrecklichen Kommandoaktionen von einst traut ihnen niemand mehr zu.

Den blutigen Doppelanschlag von Wolgograd mit vielen Toten empfinden viele Russen vor den Olympischen Spielen als eine "Kriegserklärung" an den Kreml. "Zeit und Ort sind bewusst gewählt - die Terroristen wollen im ehemaligen Stalingrad, Russlands Schicksalsstadt, dem Kreml vor seinem Prestigeprojekt Olympia die Stirn bieten", sagt der Politologe Gleb Pawlowski.

Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden erschüttert ein Anschlag die Stadt Wolgograd: Ein Selbstmordattentäter reißt mit einer Bombe in einem voll besetzten Bus mindestens 13 Menschen mit in den Tod. Wie am Vortag, als ein Sprengsatz im örtlichen Bahnhof detoniert, führt die Spur der Bluttat zu Islamisten in den Nordkaukasus.

Ruhig bis 2009

Kremlchef Wladimir Putin, dem es in 13 Amtsjahren als Präsident und Premier nicht gelungen ist, völlige Ruhe in die Konfliktregion zu bringen, kündigt nun eine harte Offensive an. Doch schon jetzt tobt in der bergigen Vielvölkerregion ein mörderisches Ringen. Kaum ein Tag vergeht in dem Gebiet rund 2000 Kilometer südlich von Moskau ohne Meldungen über Gefechte zwischen Kremleinheiten und Extremisten.

Es ist eine Spirale der Gewalt, in der etwa auch die Brüder Tamerlan und Dzhokhar Tsarnaev (Dschochar Zarnajew) aufgewachsen sind, die im Frühjahr einen blutigen Bombenanschlag auf den Boston-Marathon verübten.

Die Lage im russischen Kernland galt lange als stabil - bis zum Beginn einer Anschlagsserie vor vier Jahren. Seitdem wurden vor allem Transportmittel zum Ziel der Extremisten. Auf sie sind die Menschen im größten Land der Erde aufgrund der oft weiten Entfernungen besonders angewiesen. Sprengsätze explodierten in Moskau in einem Flughafen und in der Metro, in Wolgograd im Bahnhof und zweimal im Bus und auch am Gleisbett des Luxuszugs "Newski Express" zwischen Moskau und St. Petersburg. Stets starben viele Menschen.

Staatsfeind Nummer Eins

Hinter vielen Anschlägen vermutet der Inlandsgeheimdienst FSB den tschetschenischen Top-Terroristen Doku Umarow. Erst vor wenigen Monaten hatte "Russlands Bin Laden" damit gedroht, die Olympischen Winterspiele im Februar in Sotschi mit Attacken zu torpedieren. Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Umarow ist Russlands Staatsfeind Nummer Eins, aber sein Einfluss gilt mittlerweile als umstritten.

Sicherheitsexperten in Moskau meinen, dass die Kampfkraft der Terroristen heute nicht mehr reicht für Attentate wie im Moskauer Theater Nord-Ost (2002) oder in der Schule von Beslan (2004). Damals nahmen jeweils Dutzende Bewaffnete zahlreiche Geiseln. Beide Attentate endeten mit zahlreichen Toten. "Die Terroristen sind nicht mehr stark genug für große Kommandoaktionen, sie können aber einzeln immer noch Angst und Schrecken verbreiten - wie in Wolgograd", meint FSB-Chef Alexander Bortnikow.

Im Frühjahr 2012 schickte Moskau 30.000 zusätzliche Soldaten in die Teilrepublik Dagestan - für Experten ein Zeichen, dass die lokalen Behörden längst nicht mehr Herr der Lage sind. Doch nicht nur mit Panzern versucht der Kreml, die Konfliktregion zu beruhigen.

"Nordkaukasische Utopie"

Milliarden pumpt der Staat derzeit in das Gebiet, damit ein geplantes Ski- und Wandergebiet künftig "Touristen statt Terroristen" in die schöne Gegend lockt und dort Arbeitsplätze schafft. Daneben investiert der Oligarch Sulejman Kerimow riesige Summen in Fußballschulen des Erstligisten Anschi Machatschkala, um arbeitslosen Jugendlichen in Dagestan eine Perspektive zu geben - und sie dem Einfluss der Islamisten zu entziehen. Doch Kommentatoren sind skeptisch. Der Kreml schaffe sich mit Geld eine "nordkaukasische Utopie", meint etwa die Moskauer Tageszeitung "Nesawissimaja Gaseta".

Im Nordkaukasus, wo die Lage einem Pulverfass gleiche, finde die Zentralregierung bisher kein Mittel gegen die Gewalt, meint der Radiosender Echo Moskwy. Die Steuergelder, die Moskau jedes Jahr in das Gebiet pumpe, versickerten in den Taschen korrupter Beamter. Menschenrechtler klagen zudem, dass auch Militär, Polizei und Geheimdienst zu brutalen Mitteln griffen. Die Bevölkerung werde so immer weiter radikalisiert.