Die offizielle Erklärung der Menschenrechte ist dieser Tage 65 Jahre her. Wir leben in der bislang längsten Periode ohne großen, transkontinentalen Krieg: Diese Kulisse müsste eine Blütezeit für die Menschenrechte bieten. Ist dem so?

MANFRED NOWAK: Das Hauptziel der Vereinten Nationen - einen dritten Weltkrieg zu verhindern - wurde erreicht. Zudem ging zum Beispiel die Verbreitung der Todesstrafe zurück, die Stellung der Frauen hat sich gebessert, die lateinamerikanischen Militärdiktaturen, der Kommunismus in Mittel- und Osteuropa und die Apartheid gehören der Vergangenheit an. Insofern lassen sich einige Erfolgsstorys zitieren.

Aber ins öffentliche Bewusstsein treten die Menschenrechte nur dann, wenn es Verletzungen gibt. Haben die Menschenrechte ein Imageproblem?

NOWAK: Damit treffen Sie ins Schwarze. Wir sollten verstärkt das Positive herausstreichen.

Auch Sie hatten als Sonderbeauftragter der UNO über Folter aber vor allem mit den negativen Seiten zu tun. Hat das bei Ihnen Spuren hinterlassen?

NOWAK: Die psychische Belastung ist vor allem beim Fact Finding in Haftanstalten oder Gefängnissen schon sehr groß, weil man Sachen sieht, die nicht zum Erfreulichsten gehören.

Besteht die Gefahr, dass man dabei abstumpft?

NOWAK: Diese Gefahr existiert natürlich. Deshalb ist es auch gut, dass man derartige Funktionen nur maximal sechs Jahre ausüben kann. Ich hoffe, dass ich nicht abgestumpft bin.

Was ist psychisch belastender: Gespräche mit Opfern oder Tätern?

NOWAK: Gespräche mit den Opfern sind emotional schwieriger. Man lebt da natürlich mit - ohne Empathie geht dieser Job ja nicht. Aber zu viel Empathie darf man nicht einbringen, um nicht zynisch zu werden.

Und beim Kontakt mit Tätern -wie ging es Ihnen dabei?

NOWAK: Es ist nicht immer ganz leicht, sich zu beherrschen. Es kann nämlich schon wütend machen, wenn man mit sturem Lügen und Leugnen konfrontiert ist. Ich wurde nie in meinem Leben so viel belogen wie von Innenministern, Polizeichefs, Gefängnisleitern etc., die ich mit Vorwürfen und Beweisen konfrontiert habe. Da muss man diplomatische Contenance wahren.

Haben Sie auch Mitleid mit Tätern? Vielfach gelten sie ja als erste Opfer eines derartigen Systems.

NOWAK: Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Aber ich habe vielfach Verständnis. Nicht selten wurden Folterer ja vorher selbst gefoltert, beispielsweise Kindersoldaten, die zunächst selbst erniedrigt werden, um dann so unerhört grausam sein zu können. Es ist bei dieser Arbeit entscheidend, nicht das Individuum, die Folterknechte, sondern das System für die Verfehlungen verantwortlich zu machen.

Erklärt sich Ihnen das Warum dieser Taten durch diese Befragungen ausreichend?

NOWAK: Es gibt so etwas wie eine Alltäglichkeit des Unfassbaren. Trotzdem kann man vieles rational erklären. Die Gründe sind oft simpler, als man glaubt. Manchmal ist es Geldmangel beim Polizeiapparat, manchmal eine veraltete Strafprozessordnung. Bei den meisten Folterstaaten kann man die Ursachen erkennen.

Wann wurden Sie zuletzt Opfer von Menschenrechtsverletzungen?

NOWAK: Ich habe Glück gehabt. Schweren Vergehen bin ich bisher entkommen, bedroht wurde ich aber immer wieder.

Wie?

NOWAK: Beispielsweise dass Agenten im Gespräch mit mir Details über meine Familie erzählen, um mich unter Druck zu setzen.

Wie reagiert man darauf?

NOWAK: Am besten ignoriert man das, sonst wird man paranoid.

Es gibt daneben auch eine soziale Dimension von Menschenrechtsverletzungen: beispielsweise arbeitsrechtliche Bestimmungen, das Urheberrecht, das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit oder die Niederlassungsfreiheit - allesamt Inhalte einzelner Artikel. Wird das übersehen?

NOWAK: Ja, der westliche Blick auf die Menschenrechte verengt die Diskussion sehr schnell. Auch in Österreich, wo noch 1993 großspurig gesagt wurde "Alle Menschenrechte sind gleich" - aber man bisher in der Verfassung daran gescheitert ist, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu verankern. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den staatlichen Verpflichtungen und der tatsächlichen Umsetzung.

Woran liegt das?

NOWAK: Weil entsprechende Instrumente für das 21. Jahrhundert fehlen, zum Beispiel bezüglich des Klimawandels, der Armut, der Macht transnationaler Konzerne, der organisierten Kriminalität oder der Finanzwirtschaft. Diesbezüglich geben die Menschenrechte nur normative Antworten, aber in der Praxis herrscht höchste Alarmstufe.

Haben Sie die publik gewordenen Abhöraktivitäten des US-Geheimdienstes NSA überrascht?

NOWAK: Nein, eher die Scheinheiligkeit, mit der Staaten darauf reagiert haben, die zu 100 Prozent von dem Datenaustausch gewusst haben. Ich habe selbst 2010 einen großen Bericht über geheime Gefängnisse publiziert. Wir hatten damals 66 Staaten identifiziert und haben es zum Beispiel in Polen und zwei baltischen Staaten zu 100 Prozent nachgewiesen. Bis heute hat es keines der drei Länder zugegeben.

Andererseits thematisiert auch die westliche Politik im Dialog mit Staaten, wo Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, diese aus Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen meist nur mit roboterartigen diplomatischen Formeln.

NOWAK: Das ist nicht nur feig. Es ist auch ein gerüttelt Maß an Scheinheiligkeit dabei. Wenn es drauf ankommt, zählen nämlich wirtschaftliche Interessen immer stärker als Menschenrechte - auch innerhalb Europas, wo der Abstand zwischen Arm und Reich auf Kosten sozial schwacher Gruppen größer ist. Der Staat gibt sich diesbezüglich vielfach auf und nimmt seine wesentliche Funktion nicht wahr: den Schutz der Menschenrechte.

Aber gilt überhaupt noch das Primat der Politik oder dirigiert nicht längst die Wirtschaft das Konzert der Globalisierung?

NOWAK: Es gibt eine Dysbalance. Die Wirtschaft hat sich globalisiert, aber die Nationalstaaten sind nicht fähig oder nicht gewillt, sie zu kontrollieren beziehungsweise Kontrollkompetenzen an internationale Organisationen wie die UN abzugeben. So entsteht ein Vakuum am Markt, das gefährlich ist, weil es beispielsweise vom Terrorismus oder der organisierten Kriminalität gefüllt wird. Wir laufen diesen Problemen hintennach. Es braucht ein Umdenken, damit die Politik wieder die Oberhoheit über die globalen Märkte zurückgewinnt.

Ist das moralische Charisma der Menschenrechte nachhaltig geschwächt?

NOWAK: Ja. Begonnen hat es 1989 mit der Implosion des Kommunismus. Das wäre die Chance gewesen, die Lähmung der Vereinten Nationen durch den Ost-West-Konflikt zu beenden und eine neue Weltordnung auf Basis der Menschenrechte zu schaffen.

Diese Chance hat der Westen verpasst?

NOWAK: Ja leider. Stattdessen wurde in einer arroganten Art und Weise der Sieg des Kapitalismus gefeiert. Die soziale Marktwirtschaft, wie sie existiert hat, wurde einem radikalen Neoliberalismus geopfert. Wenn wir die Chance genützt hätten, gebe es heute nicht so viel Hass auf den Westen, auf seinen Raubtierkapitalismus, der sich nach 1989 durchgesetzt hat.

Braucht es eine Neuformulierung der Menschenrechte?

NOWAK: Nein, aber stärkere Organe. Der UN-Sicherheitsrat ist falsch zusammengesetzt. Er spiegelt die Welt von 1945 wider. Die Architektur der UNO müsste sich grundsätzlich verändern: Wir bräuchten eine ständige UN-Armee, die ihre Schutzverantwortung wahrnehmen kann, um Völkermorde zu verhindern. Und es braucht - eine alte Forderung von mir - einen Weltgerichtshof für Menschenrechte.