S ie beschäftigen sich seit Langem mit der Psyche von Kindern. Mehr als 60 Prozent der Eltern verwenden Ohrfeigen noch als Erziehungsmittel. Wie erklären Sie sich, dass das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung auch in Österreich noch zu oft an der Gewaltakzeptanz von Eltern scheitert?

MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Da übertreffen uns nur Franzosen und Tschechen. Mit dem Unterschied, dass in Österreich die Ohrfeige als Ausrutscher bzw. Ultima Ratio gesehen wird, während Franzosen und Tschechen die Ohrfeige noch als grundsätzliches Erziehungsmittel ansehen. Bei uns sind Eltern zumindest nicht stolz darauf. Da hat sich im Bewusstsein einiges geändert.

Im Hinblick auf die Akzeptanz von Ohrfeigen aber offensichtlich nicht genug.

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Nein, nicht genug, denn wenn sich Eltern auch zur "netten Ohrfeige" bekennen, ist das eine Tragödie.

Im Gegensatz zur physischen Gewalt, die strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, bleibt die psychische Gewalt unsichtbar. Können sich Kinder dagegen überhaupt wehren?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Nein, abwertendes Verhalten von Eltern gegenüber Kindern, zynische Äußerungen, Respektlosigkeit - das ist alles unsichtbar und deshalb auch so dramatisch für die Entwicklung, weil ein Kind sich kaum dagegen abgrenzen kann. Wenn ein Kind in der Schule erzählt, dass es geschlagen wurde, wird darauf reagiert, weil es als gesellschaftlich intolerables Verhalten gewertet wird. Bei Liebesentzug wird das Kind in gleicher Weise geschädigt, aber das Kind kann es nicht mitteilen.

Mit welchen Folgen für die Psyche des Kindes?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Das dringt massiv in das Selbstbild ein. Das Kind wird sich sagen: Ich bin minderwertig.

Was wäre notwendig, um das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung besser zu gewährleisten?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Es müsste Kampagnen mit der Botschaft geben, dass Abwertung genauso wehtut wie Ohrfeigen. Es müsste auch verstärkt Elternberatung geben. Wir haben eine Gesellschaft, in der Kinder zunehmend rar werden. Da geht oft vielfach das Bauchgefühl in der Erziehung verloren. Hinzu kommen Konsumdruck, hohe Scheidungsraten und eine enorme Geschwindigkeit im Leben, die mit dem Rhythmus von Kindern überhaupt nicht kompatibel ist. Wir leben in einer vom Umbruch gekennzeichneten Gesellschaft, in der es wichtig wäre, das Bewusstsein zu schärfen, was das für Kinder bedeutet.

Was bedeutet es? Dass sie einerseits überfordert und andererseits unterfordert sind, wenn ihnen alles abgenommen wird?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ja, sie werden einerseits in Watte gepackt, andererseits von der Lebenswelt überfordert. Beispielsweise durch die Kombination von Ganztagesschule und wenig Ruheräumen und hoher Medienexposition. Dazu kommen Leistungsdruck und Konsumdruck. Das ist für ein Kind zu viel. Kind in der heutigen Gesellschaft zu sein, ist sehr schwer.

Die Kindheit ist bedroht?

LEIBOVICI-MÜHLBERER: . . . wie kaum je zuvor. Sie unterliegt einer ganz starken gesellschaftlichen Transformation und dieser Prozess und die gesellschaftlichen Konsequenzen werden kaum reflektiert. Wie die Frage, was es heißt, im 21. Jahrhundert im täglichen Leben Kind zu sein.

Im täglichen Leben sitzen bereits Kleinkinder oft stundenlang vor dem Computer. Sehen Sie da ebenfalls das Recht des Kindes auf Kindheit bedroht?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Das Kind hat ein Recht, in einer kindgerechten Umwelt Kind sein zu dürfen. Heute gibt es Rahmenbedingungen, die geradezu Krankheiten produzieren. Wenn Kinder mit drei Jahren stundenlang vor dem Computer sitzen, muss sich niemand wundern, dass sie hyperaktiv werden. Körperverletzung müsste neu definiert werden, denn stundenlanges Spielen am Computer im Kleinkindalter ist eigentlich Kindesmisshandlung.

Wo orten Sie weitere Defizite bei der Verletzung der Kinderrechte?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: In Österreich wäre das Recht des Kindes auf beide Elternteile noch zu schärfen. Es gibt zwar einen tollen Vorstoß durch die Scheidungsreform, aber dieser betrifft nur Kinder mit verheirateten Eltern. 40 Prozent sind aber unehelich geboren und werden davon nicht erreicht. Zu schärfen wäre auch das Recht der Kinder, nicht als Konsument gesehen zu werden. Sie werden in eine Konsumwelt hineinkatapultiert, der sie nicht gewachsen sein können.

Immer noch gekoppelt sind Bildung und Einkommen der Eltern. Was müsste sich hier ändern?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Das kann nur in einer Schulform geändert werden, die mit einem Ganztagsschulsystem vollständig die Bindungssozialisierung übernehmen müsste. Das müsste aber ein hochqualitatives System sein, wo jedes Kind mit seinen Stärken und Schwächen gesehen wird.

In einer Umfrage für World Vision unter mehr als 2000 Kindern zwischen 6 und elf Jahren wurde in Deutschland festgestellt, dass es zu einem Rückgang der persönlichen Kontakte der Kinder gekommen ist. Sehen Sie diese Entwicklung auch in Österreich?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ja, es sind Volksschulkinder oft schon vielfach strukturiert wie Erwachsene. Bei manchen Terminvereinbarungen in meiner Praxis wird es schwierig wie mit Vorstandsdirektoren. Entweder sie haben Kurse oder sind in der Ganztagsschule. Da gibt es nicht mehr genug Zeit, um Freundschaften zu pflegen oder Räume für freies Spiel. Ich bin als Kind nachmittags mit Freunden herumgezogen. Heute wird ein Spielnachmittag organisiert. Und das ist dann ein Event.