Riace ist eine 1.820-Seelen-Gemeinde im tiefsten Süden Italiens, im Herzen der Region Kalabrien. Bis vor einigen Jahren war der kleine Ort mit einem mittelalterlichen Zentrum und beeindruckenden Stadtmauern vor allem dafür bekannt, dass im Meer vor seiner Küste 1972 die beiden Bronzestatuen der "Krieger von Riace" aus dem fünften Jahrhundert vor Christus aufgefunden wurden. Dabei handelt es sich um überlebensgroße Gestalten zwischen Menschlichem und Göttlichem, die den heroischen Geist und den Schönheitsbegriff der Griechen verkörpern. Heldenhafte Tugenden sind in Riace zu Hause: Denn das kleine, von starker Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit geplagte Dorf ist europaweit zu einem Symbol für Solidarität, multikulturelle Integration und zukunftsweisende Projekte für Menschen aus benachteiligten Ländern aufgerückt.

Gestrandete Flüchtlinge fanden eine neue Heimat

Riace geht einen anderen Weg als das restliche Europa. Während Kriegsschiffe im Mittelmeer patrouillieren, Flüchtlinge in Massen bei gefährlichen Seefahrten ertrinken und Europa passiv die Migrantenwelle aus Nordafrika beobachtet, hat Domenico Lucano, seit 2004 Bürgermeister von Riace, sein Dorf zur Heimat der Flüchtlinge erklärt. Dutzende verzweifelte Menschen auf der Flucht vor Krieg und Not, die in den vergangenen Wochen auf Lampedusa und Sizilien gestrandet sind, haben hier eine Unterkunft gefunden.

Die Gemeinde stellt den Migranten die Häuser zur Verfügung, die seit der massiven Abwanderung aus Riace in Richtung Norditalien in den vergangenen Jahrzehnten leer stehen. Für die Integration der Flüchtlinge hat der Bürgermeister eine Reihe von Initiativen in die Wege geleitet, die das alte Dorf wiederbelebt, das lokale Handwerk in Bewegung gesetzt und die Rückkehr zur Landwirtschaft ermöglicht haben. Beide Seiten profitieren, denn Riace, durch die stetige Abwanderung gefährdet, erfährt mit den Ankömmlingen unverhofften Auftrieb.

Flüchtlinge werden seit 1998 angesiedelt

Seit 1998, als ein Boot mit 218 kurdischen Flüchtlingen in Riace landete, hat es sich Domenico Lucano zur Aufgabe gemacht, Flüchtlinge in der Gemeinde anzusiedeln, um diesen eine Perspektive zu bieten und das Dorf wiederzubeleben. "Die Kurden landeten mit ihrem Boot direkt an unserem Strand. Ich stand zufällig dort. Ich dachte, dass wir etwas für diese Menschen tun müssten. Denn unsere Dörfer sind alle Orte der Emigration. Sie werden eher verlassen, als dass jemand hierherkommt. Doch mit den Flüchtlingen ist unser Dorf zum ersten Mal wieder ein Ort der Hoffnung und Ankunft geworden", berichtet der 55-jährige Bürgermeister im Gespräch mit der APA.

2012 lebten etwa 500 Immigranten in Riace. Fast jeder dritte Bewohner ist in den vergangenen Jahren zugewandert. Nach der neuen Flüchtlingswelle der letzten Monate, die Sizilien und Lampedusa arg unter Druck gesetzt hat, sind es viele mehr. Vor allem Flüchtlinge aus Eritrea und Äthiopien sind zuletzt in Riace eingetroffen. "Riace gehört einem Netz italienischer Gemeinden an, die Flüchtlingen Unterstützung sichern. Viele Migranten verlassen uns nach einiger Zeit, weil sie in Richtung Norden ziehen, andere beschließen, hierzubleiben", berichtet Lucano. Die Gemeinde stellt Migranten alte, leer stehende Häuser kostenlos zur Verfügung. Die Einheimischen helfen, sie zu renovieren und wieder bewohnbar zu machen.

"Sie sind wichtig für uns"

"Wir helfen den Flüchtlingen, und die Flüchtlinge helfen uns, sie sind wichtig für uns. Durch sie haben wir einen Neubeginn geschafft, wir haben zu unserer Tradition und unseren Wurzeln zurückgefunden und der lokalen Wirtschaft neue Impulse gegeben", erzählt der Bürgermeister. Handwerkertraditionen, die durch die massive Abwanderung der Bewohner Riaces in Richtung Norditalien längst in Vergessenheit geraten waren, sind zu neuem Leben erwacht. Werkstätten, Bäckereien und Gasthäuser haben ihren Betrieb wieder aufgenommen. Das örtliche Handwerk mit seiner traditionellen Töpfer- und Textilkunst wurde neu belebt. Sogar eine Schule gibt es mittlerweile wieder.

Jetzt will Lucano, dass die verlassenen Olivenhaine in seiner Gemeinde mithilfe der Migranten wieder zur Ölproduktion verwertet werden. "Wir wollen das produzierte Öl über Netze des fairen Handels vertreiben. In unseren Olivenhainen wollen wir Migranten sichere Arbeitsverhältnisse und eine Alternative zur Schwarzarbeit bieten, die allzu oft in den süditalienischen Feldern herrscht", berichtet Lucano.

Die "Stadt der Zukunft"

Die Tür von Lucanos Büro im Rathaus Riaces steht immer offen. Der Bürgermeister gründete einen Verein und nannte ihn "Città Futura", Stadt der Zukunft. Mittlerweile ist er der größte Arbeitgeber im Ort. "Unsere Botschaft ist, dass man alle Hindernisse aus dem Weg räumen kann, wenn man nur zusammen hält", sagt der Bürgermeister. Mit Bestürzung hat er von den letzten Flüchtlingsdramen mit Hunderten von Todesopfern vor Lampedusa erfahren. Lucano fordert mit Nachdruck eine Änderung des strikten Einwanderungsgesetzes, das in Italien illegale Einreise mit Haft ahndet. "Ich bin der Ansicht, dass auch das Dublin-System geändert werden muss. Wir haben die Pflicht, Menschen auf der Flucht zu helfen. Das muss auf konkrete Weise erfolgen. Es ist aber auch wichtig, dass Europa Länder wie Italien unterstützt, die wegen ihrer geografischen Position mit dem Flüchtlingsproblem besonders stark konfrontiert sind", sagt Lucano.