Die ÖVP hat jetzt ein wenig mehr Prozente gemacht als die SPÖ mit ihrem Katastrophenergebnis bei der niederösterreichischen Landtagswahl. Was läuft falsch in der Bundes-ÖVP?ERWIN PRÖLL: Man muss schon einen Unterschied machen zwischen Bundes- und Landespolitik. Die Landespolitiker sind viel näher am Bürger dran. Die Volksbefragung zur Wehrpflicht und die Landtagswahlen haben gezeigt, welches Potenzial für die ÖVP vorhanden ist.

Warum konnte die ÖVP das Potenzial nicht nutzen?PRÖLL: Ich würde mir wünschen, dass die Minister öfters vor Ort sind. Natürlich weiß ich, dass sie viel Zeit in Brüssel verbringen müssen und sich nicht dauernd in Wiener Neustadt oder Amstetten herumtummeln können.

Was halten Sie davon, Ministerien in den Ländern anzusiedeln? PRÖLL: Dass die Politik damit näher beim Bürger ist, ist nicht automatisch gesagt. Auch muss man sich überlegen, welche finanziellen Konsequenzen so was hätte, ob nicht neue Doppelgleisigkeiten entstehen. Es geht nicht darum, wo ein Haus steht, sondern wie ein Politiker Bürgernähe praktiziert.

Das Kanzleramt in St. Pölten, wäre das nicht reizvoll?PRÖLL: Das Kanzleramt hat eine traditionelle Adresse. Ich breche nicht gern mit gewachsenen historischen Traditionen.

Die ÖVP ist in Wien, Graz, Linz auf Platz vier. Was läuft schief? PRÖLL: Das ist kein Naturgesetz. Bei den Landtagswahlen haben wir auch ÖVP-Mehrheiten in SPÖ-Städten erreicht.

Ist die Bundes-ÖVP nicht zu schmal aufgestellt? Ihr Personenkomitee ist mit fliegenden Fahnen zu Faymann übergelaufen.PRÖLL: Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich der Bundespartei öfters gesagt habe: Kunst und Kultur sollte mehr Platz bekommen. Mir geht es nicht darum, Grundsätze über Bord zu werfen, sondern um einen offenen Diskurs mit kritischen Geistern.

Ex-ÖVP-Politiker Neisser hat vorgeschlagen, Spindelegger sollte den ÖVP-Vorsitz räumen.PRÖLL: Das steht nicht zu Diskussion.

Jeder zweite Neos-Wähler hat früher ÖVP gewählt. Da gibt es enorme Defizite?PRÖLL: Ich will die Frage grundsätzlicher beantworten. Man sollte über den Ausbau des Mehrheitswahlrechts nachdenken. Die Regierungsbildung ist in einem Korsett eingespannt. Ob die eine oder andere Partei bereit ist, auf einen Ministerposten zu verzichten, um einer parteifreien Persönlichkeit ein Ministerium zu geben, ist in Wahrheit Retusche. Eine dritte Partei in eine Koalition aufzunehmen, mag spannend sein, bedeutet aber, dass die beiden anderen Parteien jede Woche erpressbar sind, weil die Entscheidungen im Ministerrat einstimmig fallen müssen. Die festgefahrenen Strukturen kann man nur ändern, wenn man beim Wahlrecht was ändert.

Das heißt, einmal regiert die SPÖ, und die ÖVP ist in Opposition?PRÖLL: So was wäre möglich, aber auch umgekehrt. Das ist in Wahrheit das richtige Spiel der Kräfte. Wir brauchen einen grundlegenden neuen Weg, um Kräfte der Demokratie wieder wirken zu lassen.

Heißt es, die Große Koalition ist Gift für das Land?PRÖLL: Das kann man nicht generell so sagen. Eines ist klar: Die Praxis der zu Ende gegangenen Koalition ist sicherlich kein Zukunftsprojekt.

Die Akteure sind dieselben.PRÖLL: Ich setze auf die Lernfähigkeit von Personen. Alle sollte wissen: Entweder ist man in der Lage, über den eigenen Schatten zu springen. Wenn nicht, braucht man das nächste Mal gar nicht mehr zu springen.

Apropos Lernfähigkeit: Was ist mit Frau Lindner los?PRÖLL: Keine Ahnung. Was soll ich dazu noch sagen?

Welchen Rat würden Sie ihr geben? PRÖLL: Ich habe Frau Lindner einen einzigen Rat gegeben, als sie mich angerufen hat, um mir mitzuteilen, dass sie bei Stronach kandidiert. Überlege dir das gut. Nicht drohend, sondern warnend und gut gemeint.

Sollte sie nicht den Rückzug antreten? Das Signal ist ja furchtbar.PRÖLL: Jeder ist seines Glückes Schmied. Es gibt Menschen, die brauchen keinen Rat.

Das Kapitel Lindner ist für Sie abgeschlossen?PRÖLL: Zwangsläufig.

Und dass sie sich dem ÖVP-Klub anschließt? PRÖLL: Von solchen Taktierereien halte ich überhaupt nichts. Die ÖVP braucht keine derartigen Winkelzüge.

Ist die Große Koalition in Stein gemeißelt? PRÖLL: In einer Demokratie ist nie eine Konstruktion in Stein gemeißelt. Ich kann nur hoffen, dass nicht einer der Akteure versucht, den anderen in eine Ehe hineinzudreschen. Wenn es beide ernst meinen, kann was Seriöses herauskommen.

Was sind die Alternativen? Strache und Stronach?PRÖLL: Das glauben Sie wohl nicht im Ernst?

Was dann?PRÖLL: Denken Sie an das Jahr 1970, als Kreisky gezeigt hat, dass es Alternativen geben kann.

Eine Minderheitsregierung? PRÖLL: Wenn die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, was ich nicht hoffe, muss man sich Alternativen überlegen.

Sie gelten als leidenschaftlicher Befürworter der Großen Koalition?PRÖLL: Leidenschaftlich ist übertrieben. Ich habe Grundsympathien.

Die Bildung verhandelt für die ÖVP ihr Kollege Haslauer, der Sympathien für die gemeinsame Schule hat. Bricht die ÖVP zu neuen Ufern auf? PRÖLL: Da müssen Sie den Parteiobmann fragen.

Sie vertreten bei der Gesamtschule und der Ganztagsbetreuung doch eine andere Linie?PRÖLL: An meiner Linie hat sich nichts geändert. Ich bin für ein flächendeckendes Angebot bei der Ganztagsbetreuung, aber gegen jeglichen Zwang. Im Übrigen geht es um Gesamtlösungen. Wie schaut der Arbeitsplatz der Lehrer aus, das Dienstrecht?

In Mai findet EU-Wahlen statt. Sollte die ÖVP Karas aufstellen?PRÖLL: Ich gebe dem Parteichef keinen Rat. Ich sehe nur, dass Karas seine Arbeit sehr gut macht, bestens vernetzt ist und er sich ein klares und pointiertes Europaprofil angeeignet hat.

Werden wir Sie 2016 im Wahlkampf sehen? PRÖLL: Die nächste Wahl in Niederösterreich findet 2018 statt - pardon: 2015 sind auch schon Gemeinderatswahlen.

Bei der Bundespräsidentenwahl sind Sie nur Zaungast? PRÖLL: Ich bin nie Zaungast bei Bundeswahlen, auch wenn ich selbst nicht kandidiere. In den letzten Wochen war ich rund um die Uhr im Einsatz.

Ist es denkbar, dass ein Bundespräsident 2018 Strache als Kanzler angeloben muss?PRÖLL: Das wird von den handelnden Personen abhängen, die die Koalitionsverhandlungen führen.