Innerhalb eines Jahres stiegen die ägyptischen Muslimbrüder von einer halblegalen Organisation zur mächtigsten politischen Kraft Ägyptens auf. Ihr tiefer Sturz ging noch schneller vonstatten. Erst setzten die Generäle ihren Präsidenten Mohammed Mursi ab. Dann wurde fast die komplette Führungsriege der Bruderschaft verhaftet. Bei Polizeiaktionen gegen Kundgebungen der Islamisten starben im August Hunderte Menschen. Jetzt wurde die älteste Islamistenbewegung des Landes per Gerichtsbeschluss verboten.

Jugendbewegung im Aufwind

Die Muslimbrüder sind ganz unten. Im Aufwind fühlt sich dagegen die Jugendbewegung "Tamarud" ("Rebellion"), die zusammen mit dem Militär für ein Ende der kurzen Islamistenherrschaft gesorgt hatte. Kahle graue Wände und volle Aschenbecher - die Zentrale der Tamarud-Bewegung in der Kairoer Innenstadt ist kein heimeliger Ort. Die jungen Männer, die hier vor staubigen Laptops sitzen, sind stolz, dass sie vor knapp drei Monaten mit Hilfe der Armee Mursi zu Fall gebracht haben. Doch irgendwo können die Mittzwanziger das alles immer noch nicht fassen.

Nur Mohammed, der mit seinen 40 Jahren so etwas wie der Alterspräsident der Bewegung ist, hat eine klare Vorstellung davon, wie es weitergehen soll. Auf seinem braunen T-Shirt steht in weißen Lettern "Chill". Seine Baseballkappe vervollständigt den Look des Berufsjugendlichen. Denn es ist wichtig, jung zu wirken in dieser Spätphase des Arabischen Frühlings.

Wer jung ist, gilt als unverdächtig. Wer älter als 35 ist und dazu auch noch einer Partei angehört, muss sich rechtfertigen für all die Dinge, die in Ägypten in den vergangenen Jahren schief gelaufen sind - in der Ära von Langzeitpräsident Husni Mubarak, unter der Führung des Militärrates, während der letzten Präsidentenwahlen und Mursis kurzer Herrschaft. Ägypten im September 2013 ist ein gespaltenes Land. Es regiert der Hass. Der politische Streit ist in die Privatsphäre und in die Familien eingedrungen. "Mein Cousin ist für Mursi - wir reden nicht mehr miteinander. Ich habe ihn aus der Liste meiner Facebook-Freunde entfernt", sagt ein Tamarud-Aktivist.

Die Trennungslinie verläuft zwischen Ägyptern, die der Islamisten-Regierung noch eine Chance geben wollten, und denjenigen, die es nach den von Tamarud organisierten Massenprotesten als Erlösung empfanden, als das Militär das erste demokratische Experiment für gescheitert erklärte. Man findet die Unterstützer der Armee in Armenvierteln, in denen die Islamisten einst viele Wähler hatten und wo ihre zuletzt nur noch kleinen Demonstrationszüge inzwischen mit Steinen beworfen werden. Sie leben in den schmucklosen Wohnblocks der verarmten Mittelklasse. Und sie frequentieren die teuren Cafes im Stadtteil Samalek, wo junge Eltern am Wochenende das äthiopische Kindermädchen mitbringen, damit sie in Ruhe ihren Chai-Latte schlürfen können.

Zahl der Mursi-Anhänger schrumpft

Mehr als die Hälfte der Society-Mütter trägt Kopftuch. Das bedeutet aber nicht, dass sie einer politischen Bewegung die Deutungshoheit darüber lassen wollen, wer ein guter Muslim ist und wer nicht. Der Kreis der Unterstützer der Muslimbrüder und ihrer Verbündeten aus den radikalen Islamisten-Parteien ist in den vergangenen Monaten drastisch geschrumpft - zuerst wegen der Fehler, die Mursis Regierung begangen hat, später wegen der Angriffe auf Polizeiwachen, Kirchen und staatliche Einrichtungen. Die hohe Zahl der Toten bei der Räumung der Protestlager der Mursi-Anhänger im August und die Festnahme fast aller führenden Mitglieder der Muslimbruderschaft hat zwar einige Ägypter dazu gebracht, sich mit den entmachteten Islamisten zu solidarisieren. Die Zahl der ehemaligen Mursi-Wähler, die von ihm und seiner Bewegung heute nichts mehr wissen wollen, dürfte jedoch mindestens genauso hoch sein.

Die Jugend, die während der ersten Protestwelle 2011 international so viel Bewunderung geerntet hatte, ist weiterhin relativ orientierungslos. Sie misstraut Politikern und Parteien und engagiert sich deshalb lieber in Nichtregierungsorganisationen. "Ich möchte, dass sich Menschen in dieser Gesellschaft gut fühlen können", sagt Aya Sein (21). Die Englisch-Lehrerin und ehemalige Literatur-Studentin arbeitet ehrenamtlich für ein Kulturprojekt. Besonders am Herzen liegt ihr eine Veranstaltungsreihe, bei der gebrauchte Bücher für wenig Geld den Besitzer wechseln. "Ich finde es schade, dass in meinem Land so wenige Menschen lesen und dass unser Bildungssystem so schlecht ist", sagt Sein, die sich mit ihrer engen Hose und dem wild-gezwirbelten Haar optisch nicht von Gleichaltrigen in Berlin oder Paris unterscheidet. "Demokratie", das ist für sie und für viele Ägypter ihrer Generation bisher nur eine Worthülse, die man erst noch mit Leben füllen muss.