Wer den Wahlkampf verfolgt, gewinnt den Eindruck, alles sei perfekt im Lot, vom Gesundheits- bis zum Pensionssystem. Was denkt der Experte?

BERND MARIN: Der Wiener Bürgermeister sagt treffend, Wahlkampf sei die Zeit fokussierter Unintelligenz. Und kokett: Er selbst sei als "Teil dieses Wahlkampfs auch Teil der fokussierten Unintelligenz". Etwa "wenn man auf Plakaten verspricht, was man garantiert nicht halten kann". Häupl ist einer der gescheitesten Politiker, aber in Pensionsfragen populistisch wie Strache, unüberbietbar schlicht, ganz daneben. Er sollte das neue Buch von Hannes Androsch "Ende der Bequemlichkeit" und "Österreich 2050" lesen. Aber Wahlzeiten sind auch Zeiten prononcierter Ignoranz.

Ignoranz gegenüber dem Faktum, dass weiterhin nur knapp 60 Prozent der 55- bis 59-Jährigen erwerbstätig sind, während es in Deutschland über 70 Prozent, in der Schweiz über 80 Prozent sind?

MARIN: Wir sind ein Schlusslicht Europas, davon müssen wir weg. Eine hervorragende Arbeitsmarktbilanz macht das viel leichter, die fantastische Langlebigkeit aber auch nötig: Derzeit gewinnen wir 80 bis 109 Tage im Jahr, wir werden jedes Jahrzehnt zweieinhalb Jahre jünger.

Wir leben heute ca. 700.000 Stunden und sind rund 10 bis 15 Prozent dieser Zeit erwerbstätig. Kann das auf Dauer finanzierbar bleiben?

MARIN: Wir sind im Schnitt 35 Jahre am Arbeitsmarkt, nur noch 31 davon zahlen wir Beiträge, der Rest ist Arbeitslosigkeit, Krankenstand, Berufsunfähigkeit, Karenz usw. Bei weit über 80 Lebensjahren kann sich das nicht ausgehen. Da braucht man keinen Rechner. Alle verstehen, dass man Frauen mit 27 Beitragsjahren, viele davon Teilzeit, nicht 28 Jahre Rente ohne Altersarmut anbieten kann.

Darüber wird aber eisern geschwiegen.

MARIN: Es gibt eine Funktionärsschicht, die aus Eigeninteresse Angst macht, dann beschwichtigt, Herausforderungen am liebsten totschweigt. Und wenn alle Parlamentsparteien zu Existenzfragen schweigen, bilden sich zwangsläufig neue Kräfte wie die Neos. Man kann nicht an Überlebensfragen einer Nation vorbeiagieren.

Was wäre nötig?

MARIN: Viel mehr Sachverstand in der Politik. Und etablierte Parteien sollten auch auf Stimmen derzeit noch außerhalb des Parlaments hören. Neue zivilgesellschaftliche Initiativen beginnen den Stillstand aus Trägheit und Mutlosigkeit aufzubrechen.

In den Regierungsparteien sehen Sie niemanden, der dies könnte?

MARIN: Wenige. Sozialminister Hundstorfer etwa macht einen guten Job und versteht genau, was vorgeht. Doch er sitzt eingezwängt zwischen Herrn Häupl, dem wahren Machthaber in der SPÖ, der den Takt vorgibt, und den Herren Foglar, Kaske, den "späten Zwillingen" Khol und Blecha und einer Frauenministerin, die sich taub stellt. Außerdem könnte Hundstorfer nächster Bundespräsident oder Wiener Bürgermeister werden. Wie soll er sich da mehr bewegen?

Und bei der ÖVP?

MARIN: Die ÖVP fällt, mit Ausnahme von Leitl, sogar im Liegen um.

Sie spielen darauf an, dass VP-Obmann Spindelegger die Überlegung, das Frauenpensionsalter von 60 Jahren bereits vor 2024 schrittweise anzuheben, nach der Kritik der SPÖ wie eine heiße Kartoffel fallen ließ?

MARIN: Ja, auf die tiefen Untergriffe der SPÖ hat sich die ÖVP gleich von allen Beschlüssen losgesagt.

Weil die Frauenministerin eine frühere Anhebung des Pensionsalters als Verhöhnung der Frauen bezeichnete?

MARIN: Mit Verlaub, bei sonstiger Wertschätzung: Das frühere Pensionsalter der Frauen ist selbst ein zutiefst reaktionäres Überbleibsel, das Frauen schadet und verhöhnt. Ein paternalistisch vergiftetes Bonbon. Frauen werden dadurch am Arbeitsmarkt doppelt diskriminiert, bekommen weniger Weiterbildung, weniger Karrierechancen und die großen Gehaltssprünge zwischen 50 und 65 werden ihnen vorenthalten. Sie starten im Beruf mit 83 Prozent der Männereinkommen, haben jedoch nur noch die halben Männereinkommen, wenn sie in Pension gehen. Das ist eine frauenpolitische Katastrophe. Und die wird durch EU-rechtswidriges geschlechtsspezifisches Zugangsalter einbetoniert statt aufgebrochen.

Über 55-Jährige, die arbeitslos sind, würden kontern, dass sie froh darüber sind, mit 60 in Pension gehen zu können.

MARIN: Das verstehe ich sehr gut. Daher haben Beschäftigungsinitiativen für Menschen über 50 höchste Priorität. Nach Schätzungen des AMS würden selbst bei sofortiger Angleichung des Frauenpensionsalters zwar bis zu 30.000 Frauen zusätzlich arbeitslos, gleichzeitig aber über 60.000 weiter beschäftigt. Insgesamt wäre der Effekt positiv. Es würde auch die Altersarmut der Frauen stark reduziert werden. Wenn nämlich Frauen weiterhin nur 27 Beitrittsjahre haben oder nur Teilzeit arbeiten, werden sie selbst bei gleichem Einkommen wie Männer in der Pension unter die Armutsgrenze fallen.

Seit Jahren wird über Bonus-Malus-Zahlungen für Betriebe diskutiert. Was halten Sie von Bonuszahlungen für Firmen, die Menschen über 60 beschäftigen?

MARIN: Es wäre ein ausgeklügeltes, wohldosiertes Modell der Altersrisikotarifierung nötig: Man könnte aufkommensneutral die Sozialversicherungsbeiträge im besten Erwerbsalter (25-55) eine Spur erhöhen, aber jene unter 25 und über 55 nach alterstypischen Arbeits-/Erwerbslosigkeitsrisken um bis zu 93 Prozent verringern. Es würde dann sehr viel attraktiver für Arbeitnehmer, länger zu arbeiten, sowie für Unternehmer, mehr Junge und Ältere zu beschäftigen.

Aktuelles Ziel der Regierung ist,dass die Österreicher zumindest bis 2020 nicht mehr mit 59, sondern mit 60 bzw. 61 Jahren in Pension gehen. Wird das reichen, um das System stabil zu halten?

MARIN: Wir haben zwar erstmals eine Trendwende beim Antrittsalter, aber sie reicht nicht, weil wir gleichzeitig mehr Lebenszeit dazugewinnen, der Rückstand zur OECD wird immer größer.

Der Rückstand wird größer und dennoch sind sich alle Parlamentsparteien in seltener Harmonie darin einig, das gesetzliche Pensionsalter von 65 bzw. 60 nicht anzutasten. Mit der Begründung, dass das faktische Antrittsalter von 58 bzw. 59 Jahren ja ohnehin noch weit vom gesetzlichen entfernt ist. Eine logische Begründung?

MARIN: Nein, das ist nachweislich ein kompletter Unfug. Das hören wir seit 30 Jahren. Wir sollten allein aus Signalgründen das Antrittsalter nur wenige Monate anheben, um die Leute aufzuwecken, so kann es nicht weitergehen. Vor allem weil jetzt die breiten Babyboomerjahrgänge in Pension kommen und nachwachsenden Generationen diese Last auf schmalen Schultern tragen müssen.

Was würden Sie sich wünschen angesichts des bedrohlichen demografischen Doppeltrends von Geburtenlücke, Alterung, geringer Anzahl an Erwerbsjahren?

MARIN: Wir brauchen eine wirklich große, möglichst eine Allparteien-Bereichskoalition mit Mut, eine Existenzfrage des Landes aufzugreifen. Derzeit verdoppelt sich der Zuschussbedarf nur für Pensionen alle zehn Jahre. Wir liegen heute bei 15 Milliarden Euro Pensionsdefizit im Jahr. Die Jugend, die Familien, die Wirtschaft, die Pflege, alle leiden darunter. Nötig wären massive Investitionen in Bildung, Gesundheit, Pflege, Forschung und Innovation. Weitere Konsumschulden statt Humaninvestitionen sind brandgefährlich.