Der Löwe ist versteinert. Aber von Äußerlichkeiten sollte man sich ja nicht täuschen lassen - schon gar nicht in Bayern. Das Wappentier des Freistaats hockt seit 1856 an der Einfahrt zum Lindauer Hafen und bewacht bisher erfolgreich die Inselstadt am Bodensee. Die possierliche Altstadt ist ein guter Ort, um nach Aufklärung über das bayerische Wesen zu suchen. Denn es gibt Parallelen zum flächenmäßig größten Bundesland in Deutschland.

Insel der Seligen

Die Stadt ist eine Insel der Seligen, umzingelt von befreundeten Feinden, denn man weiß ja nie. Im Osten sitzt der Österreicher hinter der Stadtgrenze, im Süden schaut der Schweizer von den Bergen über den Bodensee, im Westen und Norden lauern nur wenige Kilometer entfernt die Alemannen aus Baden-Württemberg. Die Preußen nördlich des Weißwurst-Äquators hat man hier genauso ungern wie im Rest des Landes. In Lindau spricht man schwäbisch, gehört zum bayerischen Regierungsbezirk Schwaben, ist schneller in Stuttgart als in München und doch werden die Menschen schnell grantig, wenn man sie als Schwaben bezeichnet. "Mia san echte Bayern".

Aber ist Lindau auch repräsentativ? Stellt man sich Bayern nicht eher so vor wie das Schloss Neuschwanstein, dass sich Ludwig II. erbauen ließ oder wie der Starnberger See, wo sich der Märchenkönig in die Fluten stürzte? Ist es nicht eher typisch, wenn der Traktor von Sonthofen aus auf die Allgäuer Almen tuckert und auf dem Marktplatz die Madln im Dirdnl und die Burschen in Lederhosen den Schuhplattler tanzen? Ist Bayern nicht auch Nürnberg in Franken mit Christkindlmarkt und Reichsparteitagsgelände der Nazis? Oder Regensburg in der Oberpfalz mit seinen Domspatzen, bei denen Papst Benedikts Bruder Georg Ratzinger drei Jahrzehnte das Zepter als musikalischer Leiter schwang? Während die "Bild"-Zeitung schrieb: "Wir sind Papst", sagte der Papst aus Marktl am Inn: Ich bin Bayer.

Von Lindau bis München sind es zwei Stunden auf der Autobahn 96. In der Landeshauptstadt ergibt die Suche nach dem echten Bayern ein anderes Bild. Hier stimmt der Vergleich von "Laptop und Lederhose", den die CSU verwendet, weil er den Wandel vom Agrar- zum Hightech-Standort charakterisiert. In München steht das Hofbräuhaus gleichberechtigt neben der BMW-Zentrale und das Oktoberfest hat seinen Platz wie die futuristische Allianz-Arena.

Vor allem CSU-Übervater Franz-Joseph Strauß hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Bayern zum größten Nettozahler im deutschen Finanzausgleich wurde. Dabei schuf kein CSU-Politiker das Sinnbild, aber immerhin ein Niederbayer: Roman Herzog sprach 1998 von der "geglückten Symbiose aus Laptop und Lederhose". Ein Jahr später erläuterte der Bundespräsident seine Metapher: "Vielleicht sind in Bayern Tradition und Modernität sichtbarer als in anderen Regionen Deutschlands vereint. In Wirklichkeit ist diese Symbiose zwischen heimatlichem Verwurzeltsein und weltoffener Aufgeschlossenheit aber überall in Deutschland anzutreffen. Unsere Kraftquelle ist die Region." Dafür steht die CSU, heißt es noch immer an vielen Stammtischen.

Doch die Symbiose zwischen Staat und Partei bröckelt. Kaum ein anderes Bundesland unterliegt seit Jahren solch einem demografischen Wandel. Der Wirtschaftsboom ließ die Bevölkerung seit 1989 um mehr als eine Million Menschen ansteigen. Das Bundesland übertrifft mit seinem Bruttosozialprodukt 22 der 28 EU-Länder. Zudem ließen sich allein zwischen 2000 und 2005 Hunderttausend Migranten einbürgern. Der Anteil der Katholiken sank von 70 Prozent im Jahr 1970 auf 55 Prozent. Auch die Frauen-Erwerbsquote stieg an. Doch die Wahlergebnisse spiegeln die Veränderungen nicht wieder und auch bei den Wahlen am Sonntag spricht vieles dafür, das die CSU eine absolute Mehrheit erreicht. Bayern geht es gut. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, das Wirtschaftswachstum hoch.

"Mia san mia, und uns kann keiner was sagen", ruft Ministerpräsident Horst Seehofer seinen Zuhörern bei Wahlkampfauftritten zu. Das blau-weiße Mantra ist Teil des Geheimnisse. Bayern rühmt sich, Vorbild für Deutschland zu sein. Was aber auch viel mit Unfreiwilligkeit in der Geschichte zu tun hat. So musste Bayern nach dem Krieg überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aufnehmen, die entgegen allen Erwartungen nicht zur Belastung sondern zum Motor für den Wiederaufbau wurden. Die Ministerpräsidenten Hanns Seidel und Alfons Goppel legten den Grundstein für den Wandel, die Neuausrichtung kam aber erst unter Strauss. Auf dessen Initiative hin ließen sich Luft- und Raumfahrtunternehmen in Bayern nieder. An diese Politik knüpft Edmund Stoiber an mit der Förderung von Informations- und Telekommunikationsindustrie, Biotechnologie und Medizintechnik. Gleichzeitig betonten alls Landesväter immer die bayerische Eigenheit.

Während sich die Wirtschaft wandelte, besann man sich seiner Traditionen. Immerhin ist Bayern einer der ältesten Staaten Europas, wird ab dem sechsten Jahrhundert souverän geführt. Um die erste Jahrtausendwende hatte Bayern seine größte Ausdehnung bis zu Adria inklusive Steiermark und Kärnten. Von 1070 unter den Welfen und von 1180 bis 1918 unter den Wittelsbachern wurde Bayern Herzogtum, Kurfürstentum und ab 1806 Königreich. Nach dem Dreißigjährigen Krieg spielte Bayern eine wichtige Rolle in der Politik der Großmächte.

Der Niedergang

Doch dann kam der Niedergang, schrieb der Publizist Wilfried Scharnagl 2008 in einem Plädoyer für die Eigenstaatlichkeit Bayerns. Damals, im Jänner 1871, trat das Königreich dem zentralistischen Einheitsstaat des Deutschen Reiches unter preußischer Dominanz bei und dies markierte für Scharnagl "den beginnenden Absturz auf einer schiefen historischen Ebene", mit einer Entwicklung, die in der Abdankung König Ludwig III. 1918 und im Zweiten Weltkrieg ihr katastrophales Ende gefunden habe. Seither träumen die Baiuwaren von der Befreiung von Brüsseler und Berliner Zwängen.

Sie stellen sich einen Freistaat vor, dessen Regierungschef Seehofer von Kanzlerin Merkel mit militärischen Ehren empfangen wird und der FC Bayern München Fußballweltmeister wird. Und was man mit den vier Milliarden Euro machen könnte, die jährlich im Länderfinanzausgleich in Restdeutschland versickern, darüber lässt sich auch hervorragend sinnieren.