In der Theorie ist alles ganz einfach. Die ÖVP könnte in der Nationalratswahl Erster werden, obwohl alle Umfragen das Gegenteil behaupten. Denn seit Beginn der großen Krise ist Wirtschaft das politische Top-Thema, und das müsste Michael Spindelegger ins Konzept passen.

In der Wahlforschung lautet die Fragestellung "Welche Partei halten die Wähler bei bestimmten Themen für am engagiertesten und kompetentesten?" Das Vergleichsergebnis ist eindeutig: Würde sich alles um Umwelt drehen, müssten die Grünen haushoch gewinnen. Stehen Zuwanderung und Integration vulgo "die Ausländer" im Mittelpunkt, frohlockt die FPÖ. Geht es um Arbeitsplätze, hat die SPÖ einen Wettbewerbsvorteil.

Nur in der Wirtschaftspolitik wird unverändert der ÖVP am meisten zugetraut. Ihr Vorsprung auf andere Parteien beträgt da 20 Prozentpunkte und mehr. Das sollte reichen, um angesichts der von Niedrigwachstum bis Euro dringenden Notwendigkeit ökonomischer Lösungskompetenz davon zu profitieren. Was man daraus macht? Nichts.

Spindelegger gilt als integer, doch hat er mehrere Klötze am Bein. Mit Ernst Strasser und Josef Martinz sowie den Telekom-Geldern gibt es zu viele Fälle, wo seine Parteikollegen ihre Kompetenz zum mutmaßlichen Wirtschaften in die eigene Tasche nutzten. Zudem sind sich die Teilorganisationen ÖAAB und Wirtschaftsbund selten einig. Der ÖAAB mit Spindelegger als Ex-Chef wird das Image einer Beamtengewerkschaft nicht los. Deshalb kommen in der Privatwirtschaft berufstätige Wähler, die 2008 zu Jörg Haider überliefen, nicht zurück. Obwohl das infolge des schwächelnden BZÖ ein großes Stimmenpotenzial wäre.

Weil es 250.000 Beamte und sechsmal mehr Angestellte gibt, kann die Rechnung für die ÖVP nicht aufgehen. Die mit fast 30 Prozent riesige Wählergruppe der Pensionisten wird ebenfalls irritiert. ÖVP-Wortmeldungen für eine Erhöhung des Pensionsalters und die Angleichung jenes der Frauen haben sachliche Berechtigung. Sagt man das kurz vor Wahlen, ist das ein aufgelegter Elfmeter für die Gegner.

Wie könnte eine Strategie stattdessen aussehen? In Nieder- und Oberösterreich leben fast 2,4 Millionen Wahlberechtigte, mehr als ein Drittel aller Österreicher. Auf Landesebene ist die ÖVP oft nahe der absoluten Mehrheit. Bei Nationalratswahlen bekam man zuletzt 32 bzw. 26 Prozent. Die Siegeschance der ÖVP wäre, wenn die regionalen Volksparteien plus deren Spitzen Erwin Pröll und Josef Pühringer persönlich voll in den Wahlkampf einstiegen.

Das mit totalem Risiko zu tun, ist für die Genannten unangenehm. Wenn sie frühere Bundesresultate ihrer Partei klar verbessern, haben sie selbst wenig davon. Stattdessen heißt es, dass sie trotzdem schlechter als bei der Landtagswahl sind. Also klinken sich Pröll und Pühringer zwar nicht wie 2008 aus dem Wahlkampf aus, sind aber nur irgendwie dabei statt mittendrin.

Dabei könnte die ÖVP aus Niederösterreich der extrem brustschwachen Schwesterpartei in Wien helfen. Von den rund 150.000 Zweitwohnungsbesitzern sind im Land viele für Pröll als Person. Für den Nationalrat stimmen sie in Wien ab, wurden jedoch in Datenbanken der Landesschwarzen erfasst und wären zielgerichtet ansprechbar.

Hinzu käme die Kampagnefähigkeit der Pröll'schen Wahlkampfmaschinerie bei Boulevardmedien in Wien und Umgebung. Die Wiener ÖVP kostet deren Eigentümer ein müdes Lächeln, bei Druck aus Sankt Pölten ist das anders. Warum Pröll diesen nicht ausübt? Das Gesagte gilt ja in beide Richtungen.

Es ist unangenehm für die SPÖ in Wien, wenn Niederösterreichs ÖVP ihre Kampfzone auf die Bundeshauptstadt erweitert. Umgekehrt kann man dem Platzhirsch ebenfalls wehtun. Also existiert sicher zwischen Pröll und Bürgermeister Michael Häupl ein Abkommen, das wechselweise zu unterlassen. Da lässt man lieber die eigene Bundespartei im Regen stehen.

Man muss Michael Spindelegger dennoch erstens zugestehen, dass er sich in seinem Auftreten sehr verbessert und Zug zum Tor entwickelt hat. Er ist nicht mehr Parteiverwalter, sondern ein Politiker mit Standpunkten. Vorbei ist zweitens die Zeit, als er signalisierte, man hoffe trotz Verlusten irgendwie in der Regierung zu bleiben. Mit einem tauglichen Wahlergebnis hat Spindelegger drittens die meisten sowohl rechnerisch als auch politisch machbaren Koalitionsvarianten zur Hand. Sein Spektrum denkbarer Partner umfasst alle, von Grün bis Blau. Das gibt ihm eine Kanzlerchance.