Veit Dengler, Sie sind in vielen Ländern aufgewachsen, in Finnland, Ungarn, Österreich - habe ich etwas ausgelassen?

VEIT DENGLER: Die ersten zehn Jahre bin ich in der Oststeiermark aufgewachsen, dann lebten wir vier Jahre in Ungarn und vier Jahre in Finnland. Dann kam das Studium in Österreich, gefolgt von insgesamt sechs Jahren in den USA und zwei Jahren in Frankreich.

Welches dieser Länder ist für Sie Heimat?

DENGLER: Ein Stück Heimat ist in allen. Wenn man länger wo gelebt hat, wird man davon mitgeformt. Ein Gefühl im Magen habe ich aber nur, wenn ich nach St. Stefan fahre.

Das Gefühl von Heimat löst sich nicht einfach auf, wenn man viele Bezugspunkte hat?

DENGLER: Nein, aber es relativiert sich ein bisschen.

Was fällt Ihnen zu Österreich spontan ein?

DENGLER: Gemütlich, reich - vielleicht zu gemütlich.

Fehlt Ihnen etwas, wenn Sie im Ausland wohnen?

DENGLER: Mir fehlen gute Wiener Kaffeehäuser, das Café Sperl ganz konkret. Mir fehlen auch gewisse heimische Medien, aber die kann man jetzt auch aus der Ferne konsumieren. Mir fehlt natürlich der Freundes- und Familienkreis.

Sie leben in der Schweiz, könnten Sie sagen, was wir von dort lernen könnten?

DENGLER: Viel. Die Schweiz kommt mir manchmal vor wie ein besseres Österreich.

Besser organisiert?

DENGLER: Ja, besser organisiert. Sowohl in der Verwaltung als auch in Fragen der Bildung oder der Wirtschaft gibt es vieles, was wir gewinnbringend probieren könnten.

Was ist in der Bürokratie oder Verwaltung besser?

DENGLER: Das Wichtigste: Man merkt auf jeder Ebene, dass es ein Kundenbewusstsein gibt. Das kommt daher, dass man seine Steuern auf der Ebene zahlt, wo das Geld auch ausgegeben wird. Die Gemeinde, in der ich lebe, finanziere ich mit meiner lokalen Einkommensteuer. Das ergibt ein viel höheres Kunden- und Verantwortungsbewusstsein der Verwaltung.

Und in der Wirtschaft?

DENGLER: Da sind es zwei Dinge: Da ist einmal der Mut zum Großen. Es gibt viele Großbetriebe, die hier zu Hause sind. Es kommen aber auch viele ausländische Hauptquartiere her. Das liegt an der Standortpolitik und an den Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.

Die da sind?

DENGLER: Die großen Vorteile liegen im Steuer- und Arbeitsrecht. Man darf nicht vergessen, Österreich und die Schweiz haben eine ähnliche Ausgangslage, wenig natürliche Ressourcen, eine relativ gute zentrale Lage, manchmal eine schwierige Geografie. Dennoch ist die Schweiz um einiges wohlhabender als Österreich und hat auch geringere Einkommensunterschiede.

Wie ist das entstanden?

DENGLER: Es gibt eine größere Egalität in der Gesellschaft, weil die Aristokratie hier nie so eine Rolle gespielt hat.

Gibt es auch eine Neidkultur?

DENGLER: Ja, das merkt man im Gespräch genauso wie bei uns.

Bei uns gibt es eine große Debatte über mehr direkte Demokratie und zugleich Angst davor. Ist das Schweizer Modell exportierbar?

DENGLER: Es kommt also - wie so oft im Leben - auf das Wie an. Hier gibt es zum Beispiel immer ein Informationsbüchlein zur Abstimmung, das die Frage erklärt und Hintergrund dazu liefert. Zum Schluss kommt dann die Empfehlung der jeweiligen Regierungsebene. Aber das ist klar getrennt vom neutralen inhaltlichen Teil. Da kann man viel lernen.

Gibt es Grenzen?

DENGLER: Ich glaube schon. Man kann nicht über Minderheitenrechte abstimmen.

Das tun die Schweizer aber manchmal.

DENGLER: Mit dem Minarettverbot, ja, darüber kann man streiten. Außerdem muss man in einem Land, das sehr viel direkte Demokratie praktiziert, vorsichtig sein, dass nicht zu stark mit den Emotionen gespielt wird.

Die Schweizer weigern sich seit vielen Jahren, der EU beizutreten. Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Idee?

DENGLER: Ich bin prinzipiell ein großer Verfechter der EU. Natürlich hat sie in den letzten fünf Jahren mit der Herumeierei rund um den Euro an Attraktivität eingebüßt. Das ist zurzeit keine große Diskussion in der Schweiz.

Können Sie verstehen, dass sie nicht dazuwollen?

DENGLER: Die EWR-Abstimmung war ja sehr, sehr knapp. Es gibt gerade bei den reicheren Ländern in Europa das Gefühl, nicht sehr viel von der EU zu haben. Da ist die Schweiz gar nicht so untypisch.

Was sind die Baustellen der nächsten Regierung?

DENGLER: Wir haben einige Schwachstellen, aber die größte Schwachstelle für mich ist eine gewisse wirtschaftliche Unverantwortlichkeit.

Was meinen Sie damit?

DENGLER: Ganz einfach: Budget und Steuern. Wir haben nicht nur riesige Schulden, sondern auch Verpflichtungen in die Zukunft. Im Gesundheitssystem kommen auch noch Kosten auf uns zu mit der Überalterung der Bevölkerung. Da werden munter Probleme in die Zukunft verschoben. Die Schweiz, Finnland oder Schweden sind da viel verantwortungsvoller. Das zweite große Problem liegt im Bildungsbereich, wo jahrzehntelang Innovation verschlafen worden ist und die Bildungsqualität langsam, aber stetig abnimmt.

Bei hohen Kosten.

DENGLER: Wir haben eines der teuersten Systeme. Dazu kommt die Unfähigkeit der Politik, das Problem anzugehen. Die österreichische Politik verliert sich sehr im Kleinkram und verliert die großen Probleme aus den Augen.

Was fürchten Sie, dass passiert, wenn nichts passiert?

DENGLER: Wenn es nicht besser wird, dann wird es jedes Jahr ein bisschen weniger gut. Auf die Dauer kumuliert sich dann der Effekt und wird ein riesiges Problem für uns. Diese langsame Verschlechterung ist die Unverantwortlichkeit, die ich meine. Die müsste man ändern.

Wie lange würde es dauern, bis die Folgen von Untätigkeit spürbar werden?

DENGLER: Ich glaube nicht, dass es da einen Punkt gibt, wo es kracht. Wenn noch einmal eine Wirtschaftskrise wie 2008/09 kommt, dann könnten auf einmal die Zinskosten für Österreich in die Höhe schnellen und dann muss man mit der Motorsäge durchs Budget. Jetzt hätten wir noch den Luxus, das Budget relativ schmerzlos zu sanieren.

Was wäre zu sanieren?

DENGLER: Die Pensionen muss man angehen, die Effizienz der öffentlichen Verwaltung steigern, ganz besonders im Gesundheitssektor und in der Bildung. Außerdem haben wir ein skurriles Steuersystem mit sehr hohen Tarifen, vielen Ausnahmen und sehr vielen Verzweigungen. Das bewirkt makroökonomisch, dass die wirtschaftlichen Aktivitäten in falsche Bahnen gelenkt werden, nämlich dorthin, wo man am wenigsten Steuern zahlt, und nicht dorthin, wo man am produktivsten ist.

Sie sind für eine radikale Vereinfachung des Steuersystems?

DENGLER: Ja.

Sie haben sich in einer Partei engagiert, die gerade erst entstanden ist, den NEOS. Warum glauben Sie, dass eine neue, kleine Partei die großen Probleme angehen kann?

DENGLER: Was im derzeitigen Angebot ist, ist nicht wählbar, das ist der kurze Grund. Deswegen muss man neu anfangen. Und wie jeder Start ist auch dieser Start am Anfang schwer. Aber wir sind ja nicht angetreten, eine Fünfprozentpartei zu sein. Wir wollen das Land verändern. Dazu müssen wir zuerst ins Parlament kommen und dann in die Regierung. Nur so kann man etwas verändern in Österreich.

Können Sie sich vorstellen, wieder zurückzukommen?

DENGLER: Jetzt habe ich einmal eine große schöne Aufgabe hier in der Schweiz.