Dramatische Wende in Kairo. Einen Tag nach den größten Demonstrationen seit dem Volksaufstand gegen Hosni Mubarak hat Ägyptens Armeeführung den Politikern des islamistischen und liberalen Lagers ein 48-Stunden-Ultimatum gestellt, sich zu einigen. Anderenfalls werde das Militär dem Volk einen eigenen "Fahrplan für die Zukunft" vorlegen. Die Massenproteste seien ein "beispielloser Ausdruck des Volkswillens", hieß es in der Erklärung von Oberbefehlshaber General Abdel Fattah el-Sissi, die im Staatsfernsehen verlesen und bei den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz mit Jubel begrüßt wurde. Präsident Mohammed Mursi, der einen Rücktritt kategorisch ablehnt, kündigte eine eigene Erklärung an, während sich in seiner Regierung Auflösungserscheinungen zeigten. Vier Minister reichten ihren Rücktritt ein.

In der Nacht zuvor hatte ein Mob das Hauptquartier der Muslimbruderschaft in Kairo gestürmt, ohne dass die Polizei einschritt. Triumphierend hielten junge Schläger ihre Beute aus den Büros der Muslimbruderführung in die Kameras, schleppten Sessel, Teppiche, Fernseher, Dokumente und Mursi-Portraits davon. Die Oppositionsbewegung "Tamarod" setzte derweil dem Staatschef ein Ultimatum: Entweder Mursi trete bis Dienstag 17 Uhr zurück oder man werde mit einer Kampagne des zivilen Ungehorsams die Nation lahmlegen.

Wie zuvor bei den Protesten in der Türkei, zeigt sich auch in Ägypten, dass der politische Islam mit seinem religiösen Gestaltungsanspruch eine Polarisierung in der Gesellschaft erzeugt, die das Staatswesen zerreißen kann. Denn wer seine Wahlstimmen bei Bauern, sozial Schwachen und Ungebildeten mit dem Slogan "Islam ist die Lösung" eintreibt, erringt nicht automatisch das Mandat, den gebildeten und die Volkswirtschaft tragenden Schichten mit frommen Vorschriften auf die Nerven zu gehen. Entsprechend war Mursis Ursünde, die ihn jetzt vorzeitig das Amt kosten könnte: sein Verfassungscoup vor einem halben Jahr. Nur um die Scharia als zentrale Quelle des Rechts in der Verfassung zu verankern, kündigte er die Kooperation mit der Demokratiebewegung auf, schloss die treibenden Kräfte der Revolution von der Mitgestaltung des Grundgesetzes aus und stieß die Minderheit der Christen vor den Kopf. Im November beim 17-stündigen Schlussmarathon in der Verfassungsgebenden Versammlung waren Muslimbrüder und Salafisten dann unter sich. Alle säkularen, liberalen und nicht-islamischen Volksvertreter hatten zuvor aus Protest ihre Mandate niedergelegt. Wochenlange Straßenkämpfe folgten.

Am Ende stimmten zwanzig Prozent der Bürger dem postrevolutionären Grundgesetz zu, zehn Prozent waren dagegen, siebzig Prozent hielten sich fern. Ägyptens Start in ein neues Zeitalter hätte nicht katastrophaler ausfallen können. Wie ein Krebsgeschwulst frisst sich diese Erfahrung seitdem in die politische Kultur hinein. Islamisten und Säkulare stehen sich wie fremde Heerscharen gegenüber. Misstrauen und Verdächtigungen vergiften das politische Klima, während Wirtschaft und öffentliche Sicherheit dem Staatszerfall entgegenschlittern. Die Zerstrittenheit habe ein Ausmaß erreicht, das die Grundlagen des Staates gefährde, sagte el-Sissi und fügte drohend hinzu: "Wir werden nicht schweigend zusehen, wie unser Vaterland in einen Konflikt hineinrutscht, der praktisch nicht mehr beherrschbar ist."

Das Bündnis "Tamarod", das nach eigenen Angaben 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi gesammelt und damit die Lawine der Massenproteste losgetreten hat, wirft Muslimbrüdern und Salafisten vor, die Macht zu monopolisieren, das Land durch ihre inkompetente Politik in eine heillose Misere geführt zu haben und der Gesellschaft einen islamistischen Stempel aufdrücken zu wollen. Denn ein Staat ist keine religiös getönte Moralanstalt und kann es nie sein. Glaube ist und bleibt eine höchstpersönliche Angelegenheit. Und wer, wie der Türke Erdo?an und der Ägypter Mursi, per Staatsgewalt aus seinen Landsleuten bessere Muslime machen will, wird eines Tages die Quittung bekommen. Für Muslimbruder Mursi könnte dies bereits diese Woche der Fall sein.