Frau Beyli, können Sie die aktuelle Atmosphäre in der Türkei beschreiben?

ZEYNEP BEYLI: Was momentan in der Türkei passiert, ist historisch einzigartig. Wir stellen uns - auf friedliche Weise - einem faschistischen Ministerpräsidenten und brutaler Polizeigewalt entgegen. Ein Prozent von uns möge Steine werfen, doch 99 Prozent versuchen, sie daran zu hindern.

Regierungschef Recep Tayyip Erdogan will seinen Kritikern offenbar entgegenkommen, was halten Sie davon?

BEYLI: Er traf sich mit einer Gruppe von Aktivisten in Ankara, darunter Akademiker, Studenten und Künstler. Jene Gruppen, die im Gezi-Park demonstrierten, wurden allerdings boykottiert und waren nicht vertreten. Er glaubt, sich bei einem Referendum über die Zukunft des Parks noch immer auf eine starke Basis verlassen zu können. Die allgemeine Meinung geht aber dahin, das alles nur für ein PR-Aktion zu halten. So will er den Schaden an seinem sultangleichen Image in Grenzen halten. Ich glaube nicht, dass die Demonstration bald abebben werden. Die Menschen glauben Erdogan kein Wort. Sie wollen den Park und den Platz nicht verlassen, auch wenn er wohl wieder durchgreifen wird.

Was werfen Sie Erdogan in der Hauptsache vor?

BEYLI: Erdogan ist demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt, doch er gebärdet sich wie ein Diktator. Er ignoriert die breite Meinung im Volk völlig und hält dafür egozentrische Reden, in denen er zu Protokoll gibt, sich nicht ändern zu wollen. Viele der Demonstranten wählten weder Erdogan noch die AKP (das ist seine "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung", Anmerkung). Wir akzeptierten die Regeln einer Demokratie - und ihn als Führer dieses Landes. Doch er repräsentiert nicht alle, ganz im Gegenteil. Er behauptete z.B. 50 Prozent der Bürger seien zu Hause festgehalten worden - das sei "sein" Volk, wir seien "die Rebellen". Erdogan vergisst, dass es seine Pflicht ist, in seiner Funktion alle Menschen zu hören. In einer anderen offiziellen Stellungnahme von seiner Seite hieß es: "Ihr werdet damit nicht davonkommen!" Da fragen wir uns alle: Nicht davonkommen womit? Freiheit? Demokratie? Jedes einzelne Statement war unzusammenhängend, dafür aber von Hass und Polarisierung durchsetzt. Er hatte viele Gelegenheiten, sich zu entschuldigen, einen Schritt zurückzutreten, doch alles, was wir zu hören bekamen, war: "Ich werde mich nicht ändern".

Welches Image hat Erdogan also mittlerweile?

BEYLI: Mittlerweile ist das Bild von ihm beinahe das von einem Feldherren. Er versucht die wenigen Demonstranten, die aggressiv sind, als ultimative Provokation hinzustellen. Erdogan macht das, weil es nichts gibt, das die unverhältnismäßige Gewalt, die die Polizei gegen friedlichen Protest einsetzt, rechtfertigen könnte.

Wie wichtig wurden und sind soziale Medien wie Twitter oder Facebook, was den Protest anbelangt?

BEYLI: Mit Hilfe der sozialen Medien hat die ganze Welt gesehen, was in der Türkei eigentlich vorgeht. Ohne sie hätten wir nicht diese Aufmerksamkeit bekommen. Die erste Attacke der Polizei fand Freitagmorgen statt und am Samstag marschierte schon der Großteil der Bevölkerung in Istanbul zum Taksim-Platz. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer über Facebook und Twitter. Und - was wichtig ist: Obwohl es viel Wut und Frustration im Internet gibt, ist es wichtig für die Menschen, ruhig zu bleiben, die Polizei nicht zu attackieren und einander zu motivieren, Bewusstsein zu schaffen.

Findet der Protest nur in großen Städten wie Istanbul oder Ankara statt oder strahlte er auch auf kleinere Gemeinden und in ländliche Gebiete ab?

BEYLI: Protest ist überall. Es gibt einen echten Aufstand von Menschen quer durch alle Gebiete. Ich habe Fotos von kleinen Ortschaften am Land gesehen - darauf eine ältere Dame, die ein Transparent mit der Aufschrift "Taksim ist überall" gehalten hat. Das war auch das einende Motto in den meisten Landesteilen.

Wer protestiert in der Hauptsache - sind es Männer, Frauen, Junge, Alte, Gebildete, Arbeiter?

BEYLI: Sehr wichtig ist es zu sehen, dass das, was nun passiert, kein 'Widerstand von extremen Elementen' war und ist: Ich denke, es ist die größte durch soziale Medien befeuerte Bürgerbewegung der Welt. Weder Entführer wie in Ägypten noch bezahlte Soldaten wie in Libyen waren hier beteiligt. Es waren Mütter, Väter, Paare, Familien, Homosexuelle, Arbeiter, Fußball-Fans, Apolitische, Nationalisten, Kommunisten, Menschen von den rechten und den linken Flügeln - und viele andere Mitglieder unserer Gesellschaft. Jeder half mit, so wie er es eben konnte. Während der Polizei-Attacken verteilten betagte Frauen Essen und Trinken. Leute, die ihr Haus nicht verlassen konnten, versuchten mit Musik und lautem Trommeln auf Kochgeschirr zu motivieren. Ich habe während der Gewaltausbrüche von offizieller Seite Menschen gesehen, die gerufen haben: "Kommt in unser Haus, die Tür ist offen, rettet euch zu uns!" Taxifahrer fuhren Verletzte gratis in die Krankenhäuser, Eigentümer von Geschäften verteilten z.B. Zitronen - diese helfen, wenn man sonst nichts hat, gegen das stechende Gefühl, das Tränengas verursacht. Ärzte versuchten ohne Pause vor Ort zu behandeln, auf Facebook posteten Menschen: "Ich bin da, mein Beruf ist das und das, wie kann ich helfen?"

Wie stark war und ist die Zensur im Land?

BEYLI: Jene Medien, die die Regierung auf ihrer Seite weiß, weigerten sich weitgehend, von dieser Revolution überhaupt zu berichten. Wir wandten uns an internationale Medien und Verbündete, um zu verbreiten, was wirklich geschieht: Friedliche Zivilisten wurden mit Tränengas und Gummigeschossen attackiert und angesprüht. Es war unmenschlich - und dazu kriminell und wahnsinnig. Die lokalen Medien waren unempfänglich für die Entwicklungen. Ich kann mich erinnern, auf der internationalen Version von CNN stündliche Updates der Lage gesehen zu haben, während das türkische CNN eine Dokumentation über Pinguine ausgestrahlt hat. Pinguine! Mittlerweile haben sich die Dinge etwas geändert, die Medien wurden auch hier kritischer. Doch noch nichts fühlt sich ehrlich und objektiv an. Was gesendet wird, ist noch immer limitiert und reglementiert.

Wie gewichtig ist die Rolle der Religion bei dieser Form von Widerstand?

BEYLI: Obwohl Erdogan und seine Partei die konservative Seite darstellen, entstand dieser Protest auf weltlicher Seite. Religion spielt in diesem Fall in Wahrheit eine viel kleinere Rolle. Hier geht es um Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. Ich habe durchaus Frauen mit Kopftüchern gesehen, die mit uns gegen Erdogan demonstriert haben. Viele in der Menge unterstützen keine bestimmte Partei, haben aber ein Bewusstsein dafür, was sich in diesem Land ändern muss. Die meisten hätten nie einen einzelnen Kandidaten gehabt, der ihre Interesse hundertprozentig vertreten hätte. Ich habe während der Ereignisse aber auch keine anti-religiösen Gesänge gehört.

Was sind Ihre Hoffnungen, ihre Träume für eine Türkei der Zukunft?

BEYLI: Ich hoffe, dass unsere Türkei nicht eines Tages nach dem islamischen Recht der Scharia geführt wird - wie das im Iran der Fall ist. Alles, was ich mir persönlich wünsche, ist, dass die Türkei ein zivilisiertes und demokratisches Land wie z.B. Schweden wird. Dieser Wandel muss groß und einmalig sein. Die türkische Kultur ändert sich Stück für Stück - und es wird eine gewisse Zeit dauern, bis das Volk "aufspringt". Ich hoffe, dass die meisten Menschen auf unserer Seite sein werden. Wir sind erwachsen geworden - und das Land sollte es auch werden. Das ist es, was ich mir für die Zukunft wünsche.