Einer der Organisatoren der Proteste in Istanbul, Umut U., erzählt im Gespräch mit der APA von den Beweg- und Hintergründen der Proteste. Ein Einlenken der Demonstranten schließt er aus. Anfangs wehrten sich die Istanbuler gegen den Bau eines Einkaufszentrums. Es soll auf dem Gelände des letzten Parks im Stadtzentrum entstehen.

Nachdem die türkische Polizei nun seit bald zwei Wochen Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas bekämpft hat, ist aus den zunächst friedlichen Aktionen ein Protest gegen die türkische Regierung geworden. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan räumt zwar Fehler in der Vorgehensweise ein und bringt ein Referendum über den Park ins Spiel, will aber weiterhin Härte gegenüber den Besetzern zeigen.

APA: Vor zwei Wochen begannen die Proteste in der Türkei im kleinen, harmlosen Rahmen anlässlich einer Aktion von Umweltschützern zur Rettung des Gezi-Parks. Mittlerweile bringen sie die türkische AKP-Regierung durch ihre Tragweite im ganzen Land in Zugzwang. Wie ist es dazu gekommen?

Umut U.: Es ist ein falsches Bild, das von den Medien verbreitet wurde, dass die Proteste wegen der Umgestaltung des Gezi-Parks erst seit Anfang Juni existieren. Eine Gruppe von Aktivisten und Umweltschützern setzt sich nämlich schon seit einem halben Jahr gegen die sinnlose Zerstörung des Parks und die Umgestaltung des wichtigsten Platzes der türkischen Hauptstadt, des Taksim-Platzes ein. Anfang Juni wurde der Protest erstmals sichtbar, weil die Bagger anrollten und die Gruppe der Aktivisten mit einigen ihrer Freunde den Park verteidigt haben. Auch ich selbst habe mich der Gruppe dann angeschlossen.

APA: Der friedliche Protest eskalierte, nachdem die Polizei eingriff...

Umut U.: Es ist alles sehr schnell gegangen. Zunächst hatten die Proteste eher den Charakter eines Straßenfestes mit Konzerten, Tänzen, Getränken und Lesungen. Aus Angst, dass die Bagger den Park zerstören, beschlossen wir damals im Park zu übernachten. Bereits drei Tage später hat die Polizei uns dann mit Tränengas herausgetrieben und unsere Zelte verbrannt. Die Sicherheitskräfte gingen dabei unnachgiebig, rabiat und sehr aggressiv vor. Ich sagte zu einem Polizisten, dass er damit aufhören solle, die Menschen zu schlagen, doch er ignorierte dies und schlug auf mich, aber auch auf junge Frauen ein. Nach und nach sperrte die Polizei das komplette Gelände ab und hetzte und attackierte uns mit Wasserwerfern, Tränengas und Knüppelschlägen. waren es Tausende, die Widerstand gegen die Polizei leisteten.

APA: Der Taksim-Platz und der Gezi-Park haben für die Bevölkerung in Istanbul eine sehr wichtige Bedeutung. Doch geht es mittlerweile wirklich nur noch um die Rettung des Parkes?

Umut U.: Ja zum einen geht es um den Park, zum anderen aber auch um die Freiheit. Der Park symbolisiert für uns die Freiheit. Wissen Sie, der Gezi-Park ist die einzige Grünfläche im Zentrum unserer Stadt. Die junge Generation hat hier so viele Erinnerungen an Flirts und gute Momente. Es ist der Ort, wo man sich nach einem Arbeitstag frei und entspannt fühlen kann. Ihn zu zerstören, ist, als würde man den Central Park aus New York entfernen. Der angrenzende Taksim-Platz ist ebenso ein zentraler Knotenpunkt für uns.

APA: Wie geht es nun weiter? Erdogan hat die Demonstranten "Extremisten" und "Gesindel" genannt, gleichzeitig aber ein Referendum ins Spiel gebracht, wenn der Park geleert wird.

Umut U.: Die Taktik und Vorgangsweise von Erdogan war und ist lächerlich. Er zerstört gerade sein eigenes Lebenswerk. Mit Gewalt gegen die eigene Bevölkerung macht er seine Wohltaten der letzten zehn Jahre für den türkischen Staat in zwei Wochen zunichte. Er glaubt, dass wir eine Minderheit sind und kommt sich vor wie Ludwig XIV.. Er agiert als Sonnenkönig und hat keinerlei Realitätsbezug. Meine Freunde und ich sind Menschen aus unterschiedlichen Glaubens- und politischen Richtungen. Akademiker, Künstler, Teeverkäufer und einfache Leute. Auch Studenten sind vertreten. Wir alle sind frustriert.

APA: Warum?

Umut U.: Weil die AKP-Regierung mit dem Gezi-Park-Umbau nur ein Zeichen setzt und der Bevölkerung deutet, in welche Richtung sich die Türkei in Hinkunft entwickeln soll. Denken Sie an das angedachte Alkoholverbot in der Nacht und weitere Schikanen gegen die Jugend. Wenn es nach Erdogan geht, rennen bei uns bald alle Frauen im Kopftuch herum und wir schreiten zurück ins Mittelalter.

APA: Noch einmal die Frage: Werden Sie auf Biegen und Brechen weiter ausharren und den Park weiterhin besetzen? Nehmen Sie das Angebot Erdogans an?

Umut U.: Auf jeden Fall bleiben wir hier. Welches Angebot? Zuckerbrot und Peitsche? Nein, danke. Das Referendum ist ein hinterhältiger Schachzug, den wir nicht ernst nehmen. In den kommenden Tagen werden die Fetzen fliegen. Viele sprechen schon von der Schlacht um Istanbul. Ich bin selbst gegen jede Form von Gewalt, und die meisten Demonstranten sind es auch. Die wenigen Randalierer, die sich unter uns mischen, repräsentieren nicht das Gesamtbild der Protestierenden. Viel mehr ist die Polizei der Motor der Gewalt. Fragen Sie in den Istanbuler Krankenhäusern nach. Tausende Menschen mussten wegen des Tränengases behandelt werden. Wir werden nicht klein beigeben. Diesmal nicht.