Die Briten überlegen den Austritt. Die Franzosen stellen die nationalen Interessen in den Vordergrund. Den Griechen steht das Wasser bis zum Hals. Die Italiener laufen einmal mehr Berlusconi nach. Die Ungarn proben das autoritäre System. In Deutschland wächst der Unmut, den ganzen Laden finanzieren zu müssen. Die Regierungschefs bekommen sicher schon Vielfliegerrabatte für ihre Krisensitzungen, bei denen jeweils ein paar Monate Zeit erkauft werden sollen. Europa wankt, in diesen Monaten und Jahren.

Zur gleichen Zeit allerdings wird über weitere Integrationsschritte gesprochen. Das klingt harmlos, aber es ist brisant. Es geht um die große Vereinigung zu einem staatsähnlichen Gebilde - wie immer man es nennen mag. Denn darin sind sich die Experten und Politiker einig: Man kann die Verschärfung der Krise nur vermeiden, wenn man die Banken kontrolliert, die Staatsbudgets überwacht, ein paar Staaten durchfinanziert, aber auch harte strukturelle Reformen durchsetzt. Am Ende werden sich die Mitgliedsländer von Brüssel ihre Budgets genehmigen lassen müssen.

Das bedeutet Souveränitätsverlust für die Staaten. Genauer genommen sind sie gar keine Staaten mehr, sondern Mitgliedsregionen des europäischen Staates. Der moderne Staat ist, wie Joseph Schumpeter gesagt hat, als Steuerstaat entstanden, und ein Budget ist ein in Zahlen gegossenes politisches Programm. Die Frage ist: Wer entscheidet darüber? Natürlich war die Europäische Union ohnehin als Prozess des langsamen Souveränitätsverlustes angelegt, vor den Augen oder hinter dem Rücken der Bürger; aber die Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist eine merkliche Schwelle. Durch die Krise wird man zum Sprung in die politische Gemeinschaft gezwungen.

Lange hat man gedacht, die wirtschaftliche Vereinigung sei eine erledigte Erfolgsgeschichte. Bei der politischen Vereinigung müsse man demokratiepolitisch noch ein bisschen nachbessern, aber im Grunde sei auch das gut im Laufen. Immer wieder wird auch Jean Monnets angebliche Bemerkung zitiert, dass man, wenn man noch einmal mit dem europäischen Integrationsprozess beginnen könnte, bei der Kultur ansetzen müsste. Aber es war zunächst nicht das Geistige, sondern das Handwerkliche, das nicht funktioniert hat. In Wahrheit wusste man immer, dass ein Währungsgebiet mit wirtschaftlich heterogenen Ländern ohne politische Vergemeinschaftung auf Dauer nicht funktionieren könne; aber man hat es aus Gründen politischer Bequemlichkeit verdrängt. Die Kräfte sind begrenzt, solange es läuft, beschwört man sich nicht mutwillig Schwierigkeiten herauf. Aber jetzt muss repariert werden, neue Spielregeln müssen gestaltet werden, und die erforderliche Kontroll- und Eingriffsmacht in mehr oder minder willige Partnerstaaten muss man sich besorgen: europäisches Semester, Stabilitätsmechanismus, Fiskalpakt, Bankenaufsicht.

Natürlich sind auch Rückbau und Zerfall möglich. Griechenland hinauswerfen, Mark und Schilling wieder einführen. Das aber bringt beträchtliche Kosten mit sich, die gerade in der Krise wehtun und über viele Jahre spürbar bleiben. Zudem steht dem die Logik einer globalisierten Welt entgegen: Die Idee, dass fürderhin die einzelnen europäischen Länder ihre Interessen gegenüber Mächten wie China, Japan und den USA selbst vertreten sollen, wird dieser Wirklichkeit nicht gerecht.

Fatalerweise verstehen die Bevölkerungen nicht, was derzeit geschieht, und es wird ihnen auch nicht in aller Deutlichkeit gesagt. Denn es geht nicht um ein paar kleinere Kompetenzverschiebungen. Auf den Punkt gebracht: Die Staaten werden aufgelöst, Schritt für Schritt. Österreich wird, so wie die anderen, weiterbestehen als Landschaft, als Gefühl, als Kultur, als Folklore, als Geschichte - aber nicht als "Staat". Es wird weiterhin eine Art Regierung und Parlament geben, aber ohne entscheidende Kompetenzen. Das ist der harte Kern, und er ist im Bewusstsein der Menschen noch nicht angekommen. Doch dieses staatsähnliche Europa wird sich nicht auf appellativem Weg herstellen lassen: indem man sich überzeugte Europäerinnen und Europäer herbeiwünscht oder indem man solidaritätsgeneralisierende und transferlegitimierende Menschenwürde beschwört. Wir kennen die Herkunft: Europa ist aus Jerusalem, Athen und Rom gewachsen; aus Christentum und Aufklärung; und noch früher: aus dem Erbe des Nahen Ostens und der arabischen Welt. Aber es steht aus, diese Erbschaft in eine "große Erzählung" für die Zukunft umzumünzen.

Fatal ist die Ungleichzeitigkeit von Übergangsprozessen: Von der Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Zwänge werden wir überrumpelt. (Und selbst bei befriedigender wirtschaftlicher Entwicklung wird die hohe Jugendarbeitslosigkeit im nächsten Jahrzehnt nicht aufgesaugt werden.) Aber für eine neue politische Ordnung, die nach Tunlichkeit ein bisschen demokratisch sein sollte, gibt es kaum Vorstellungen. Eine europäische Öffentlichkeit wird auf absehbare Zeit nicht zu erschaffen sein. Die europäische Führungs- und Machtarchitektur passt vorne und hinten nicht. Zumindest dreihundert Jahre hat es gedauert, das moderne europäische Staatensystem aufzubauen und das Muster moderner Verfassungsordnungen zu konstruieren - und es war manchmal ein ziemlich blutiger Prozess. Das dadurch geschaffene nationalstaatliche System, mit seinen verfestigten Wirtschaftskulturen und Politikkulturen, wird sich nicht mit pathetischer Geste einfach beseitigen lassen, und bis sich in einer postnationalen Konstellation gar außenpolitische Handlungsfähigkeit gewinnen lässt, wird es dauern. Die Briten könnten bis dahin ohnehin ausgeschieden sein.

Eine positive Erwartung lautet: Für Europa war in den letzten Jahrzehnten jede seiner Krisen ein Schritt vorwärts. Aber die Völker Europas sind sich nicht sicher, ob sie das als Hoffnung oder als Bedrohung verstehen sollen.