"Wie, Arbeitsplätze?" Bürgermeister Wenzeslaw Ewgeniew ist schon seit 22 Jahren im Amt und weiß sonst wirklich alles über seinen Ort. Aber die Standardfrage nach der Zahl der Arbeitsplätze bringt den quirligen Mann in Verlegenheit. "Einige fahren nach Widin und arbeiten dort bei der Eisenbahn", fällt dem Bürgermeister schließlich ein, und dann noch, dass die geplante Erdöl-Pipeline South Stream hier irgendwann eine Pumpstation errichten will. Aber was heißt hier Arbeitsplatz? "Wer ein Haus und einen Garten hat", sagt der Bürgermeister, "der kann ja gar nicht arbeitslos sein." Schließlich kann man sein Gemüse und seine Paradeiser ziehen. "Wer das nicht tut, der ist faul."

Mit wirtschaftlichen Plandaten lässt Medkowez sich nicht beschreiben. Der Ort mit seinen 1900 Einwohnern liegt mitten in der ärmsten Region Bulgariens, dem Nordwesten. "Westen ist da, wo die Sonne herunterfällt", sagt man hier, eine Anspielung auf das bulgarische Wort für die Himmelsrichtung, aus der sonst das Glück kommt - und auf die Armut, die hier herrscht. Die Hügel sind sanft, der Boden ist gut, aber zwischen den Äckern dehnt sich endloses Brachland aus. Auf den Feldern kein Mensch.

Besser als in Medkowez kann man Armut nicht organisieren. In die Löcher in den großen Betonplatten auf dem Hauptplatz wird immer wieder Zement gegossen, jedes Jahr ein bisschen mehr. Irgendwie geht alles weiter. Das Kulturhaus ist immer noch das Kulturhaus, kein Automatencafé wie in so vielen anderen Dörfern hier. Sogar die Volkstanzgruppe gibt es noch. Das Dorfzentrum gehört den Roma. Frauen und ein paar Männer in der zweiten Lebenshälfte sitzen auf den Stufen der Gebäude ringsum, die zu sozialistischer Zeit einmal wichtig waren. Man kann hier dösen, sich unterhalten. Betteln kann man hier nicht, denn wer vorbeikommt, hat nichts abzugeben.

Am EU-Fördertropf

Die ganz Armen und die Alten, bekommen das Essen gebracht, jemand putzt und versorgt sogar ihre Gärten. Die Frauen und Männer, die beim Sozialdienst arbeiten, sind alle angestellt und verdienen 40 Lewa im Monat, 20 Euro. Nebenher können sie noch Gemüse und Paradeiser ziehen.

Dimitar Kostow, 78, bekommt täglich zweimal Besuch. Die Zimmerdecke seines hübschen Häuschens gleich beim Gemeindeamt wölbt sich gefährlich nach unten. Zwei Enkelinnen, erzählt der alte Herr, leben in Salzburg und pflegen dort alte Leute. Der Sozialdienst von Medkowez, aufgezogen vom rührigen Bürgermeister, betreut 260 Menschen, das ist jeder siebte Einwohner. Das Geld kommt aus dem EU-Sozialfonds.

In die Provinzhauptstadt sind es von Medkowez gut 30 Kilometer. Verkehr herrscht unterwegs so gut wie keiner. Auf dem weiten Hauptplatz hüpft noch fröhlich der Springbrunnen von der sozialistischen Postkarte aus dem Jahr 1975. Auf Planquadraten zwischen dem Beton blühen Stiefmütterchen in Reih und Glied. Vor leeren Handy-Läden und Cafés sitzen Rentner auf Parkbänken. Voller ist es nur auf dem städtischen Markt, dem "Basar", wo man türkische und chinesische Kleidung einkaufen kann. Stand steht an Stand, die T-Shirts sind auf DIN A4 gefaltet, und niemand ruft etwas aus.

Dina, Totka und Maria treffen sich jeden Tag im Sozialcafé beim Bahnhof. In der kleinen sperrholzgetäfelten Gaststube kann man auch über Mittag sitzen bleiben und seinen Tee austrinken, wenn die Betreuerin essen geht und sorgfältig das Gitter vor der Theke schließt. Dina Petrowa, 74, bekommt nach 34 Jahren Arbeit 90 Euro Pension und noch einmal 6,50 extra für ihren verstorbenen Mann. Der einzige Sohn ist seit vier Jahren arbeitslos.

Nostalgische Verklärung

Totka Georgiewa erzählt von der Zeit, als die Gesetze noch galten, nicht gestohlen wurde und jeder einen Job hatte. Die goldene Zeit war 1991 vorbei, und seither wurde es nie mehr gut. Todor Schiwkow, der langjährige Staats- und Parteichef, soll vor seinem Tod verfügt haben, dass man ihn "ganz tief eingräbt", meint Totka: "Sonst hätten sie ihn alle gleich wieder ausgraben wollen."

"Früher sind die Jungen weggegangen", sagt Bürgermeister Ewgeniew in Medkowez. Aber seit es keine Jungen mehr gibt, können auch keine mehr weggehen. Kinder bekommen hier nur die Roma, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. "Ohne den Bürgermeister würden alle verhungern", sagt Dimitar Makawejew, 63, früherer Eisenbahner und bekanntester Rom in Dorf.

Für die jungen Roma ist Bildung der Weg. Einen Tierarzt, einen Chemieingenieur und einen doppelten Magister haben die Roma von Medkowez schon hervorgebracht. Alle sind sie in Sofia oder im Ausland. Makawejews Sohn ist Polizist. Möglich waren die Karrieren nur wegen der Schulausspeisung, meint der alte Eisenbahner.

Am Sonntag wird in Bulgarien gewählt. Bürgermeister Ewgeniew, selbst Sozialist, schnaubt nur verächtlich. "Wir sind jetzt Zuzugsgebiet", sagt er. Seit das marode Stromnetz erneuert werden soll und zu diesem Zweck privatisiert wurde, kommen die Alten aus Sofia, Widin, Montana zurück aufs Land. In der Stadt können sie den Strom nicht mehr bezahlen. "Das ist die Politik", sagt der Politiker Ewgeniew. Von Beruf ist er Landmaschineningenieur, und von Physik, sagt er, versteht er viel mehr, greift sich ein Blatt Papier und malt mit wütenden Strichen Pfeile in alle Richtungen. "Schauen Sie", sagt er, "das sind die politischen Kräfte. Die Resultante ist gleich null."