America nowhere", so lautete das Thema des "steirischen herbstes" 1992. Gemeint war die Allpräsenz der US-Kultur auch bei uns - eine Präsenz, die schon keiner mehr merkte. Seit damals hat sich die Lage verändert. Die USA leben im Schatten des Foltercamps Guantánamo Bay, ungelöster geopolitischer Konflikte und einer zehrenden Wirtschaftskrise. Antiamerikanismus machte sich bei uns breit. Er erhielt einen Dämpfer durch die erste Wahl Obamas zum Präsidenten, formierte sich jedoch während dessen Amtszeit wieder, weil diese keinen wirklichen Erneuerungsprozess brachte.

Und dann geschah Seltsames. Der Wiederwahl Obamas ging ein unbeschreiblicher Medienhype voraus. Staunend nahm der Beobachter zur Kenntnis, dass die Anteilnahme der Österreicher an den Wahlkampfereignissen in den USA eine Intensität erreichte, die man hierorts bei Wahlkämpfen kaum jemals vorfindet. Wie war das möglich? Ein erster Hinweis ergibt sich aus der Faszination zweier Führungspersönlichkeiten. Man weiß, dass hinter deren Worten ein immenses Maß an Macht und Reichtum steckt, also die Insignien "wahrer" weltlicher Herrschaft.

Die USA sind eine Führer- und Lobbyisten-Demokratie. Das bringt eine Entpolitisierung der Massen mit sich, legt man das Politikverständnis zugrunde, welches im Idealfall für Westeuropa prägend war. Der amerikanische Patriot ist stolz auf sein Land wegen der Freiheiten und Chancen, die es ihm bietet, falls er sich nach Kräften um seine "eigenen Angelegenheiten" - sein berufliches Fortkommen, seine Familie, seinen Besitzstand, seine Religion und die guten Werke (Charity) - bemüht. Obwohl Obama für die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung agitierte, spielen soziale Gemeinwohlinhalte, die bei uns das eigentlich Politische ausmachen, eine untergeordnete Rolle.

Der amerikanische Patriotismus ist, vor unserem Hintergrund latenter oder gar offener Politikverdrossenheit, hinreißend. Da verschmilzt die Liebe zum eigenen Land mit dem Bedürfnis nach Selbstachtung, jedenfalls für den Durchschnitt jener, denen es durchschnittlich gut, und auch jener, denen es durchschnittlich schlecht geht. Wir hingegen leben in einer Parteiendemokratie, deren Prinzipien wohlfahrtsstaatlich ausgerichtet sind. Parteiendemokratien dieses Typs sind wesentlich Versorgungsdemokratien. Es gibt ein Wechselspiel zwischen individuellen Wohllebenswerten und sozialer Gerechtigkeit.

Solche Demokratien gewinnen ihr Selbstverständnis dadurch, dass weltanschaulich geprägte Parteien und ihre "Beschaffungsorganisationen" (Bünde und Kammern) die Wähler mit einem Kompaktprogramm des guten Lebens in der Gemeinschaft locken. Und wo mit dem Slogan "Weniger Staat!" gelockt wird, soll zwar weniger Staat sein, aber nicht zuungunsten der allgemeinen "Lebensqualität". Ein "schlanker Staat", der die öffentlichen Leistungen ihres versorgungsdemokratischen Charakters beraubte, hätte bei uns politisch keine Chance.

Daraus entspringen paradoxe Haltungen. Einerseits erwartet man vom Staat, sich um viele Dinge zu kümmern, die prinzipiell auch stärker in der Selbstverantwortung der Bürger liegen könnten, etwa Bildungsplanung oder Altersvorsorge. Andererseits wird akkurat der Sozialstaat zum Ursprung einer hartnäckigen Politikverdrossenheit. Er gilt schließlich als der Hauptverantwortliche, wenn nichts funktioniert, wie es müsste. Als Grund wird die Korruptheit der Politikerklasse genannt, die, statt dem Gemeinwohl zu dienen, in die eigene Tasche arbeitet.

Heute zeigen Untersuchungen, dass die Österreicher mehrheitlich erklären, sie seien mit ihrem Leben zufrieden. Gleichzeitig belegen andere Umfragen einen Zustand der Politikverdrossenheit, die bereits Momente einer Demokratieverdrossenheit erkennen lässt. Offenbar lagert man aus dem Zufriedenheitsbereich der "eigenen Angelegenheiten" alles sozial Negative ins Politische aus. Man liebäugelt daher - wie erst jüngst unser Stratosphärenheld Felix Baumgartner - mit dem Gedanken, ein "wenig Diktatur" wäre nicht schlecht.

Derlei Entgleisungen sind ein Spiel mit dem Feuer. Denn weil der typische Politiker hierzulande keine mitreißende, charismatische Figur ist, sondern ein kompromissgeübter Gemeinwohltaktiker, glost das Verlangen nach einem "starken Repräsentanten", einem echten Führer der Nation weiter. Das - posthum klammheimlich verehrte - Phänomen Jörg Haider, eine Mischung aus Volksnähe und Skrupellosigkeit, ließ die Glut aufflammen. Haiders Politik der "Dritten Republik" wurde patriotisch zugejubelt, bestand sie doch in einer Aufrüstungsoffensive nationaler Gefühle, zu Lasten der "Altpolitiker", kriminellen Ausländer, Sozialschmarotzer und Volksverräter.

Kein Zweifel, es gibt, bei laufendem Antiamerikanismus, eine Neigung zur amerikanischen Leadership-Show als Politikum. Ansonsten wäre es undenkbar, dass der Führerpartei des Multimilliardärs Frank Stronach viel Sympathie zuwächst. Sein sogenanntes Team ist eine zusammengekaufte Ansammlung politischer Nullen und sein fadenscheiniges Programm hat mit dem, was wir, Mitglied der EU, unter einer europasolidarischen Haltung verstehen, nichts zu tun.

Bevor wir alle, nach den Präsidentschaftswahlen jenseits des großen Wassers, uns patriotisch weiter erhitzen, möchte ich - in Würdigung unseres glanzlosen Politikertyps - zu bedenken geben: "Die gestandene Demokratie gedeiht am besten in der abgestandenen Luft des Wohlfahrtsstaates." Und ja, heute, da wieder einmal frischer Erneuerungswind gefordert wird, bin ich mehr denn je dafür, diesen Satz ins Schulbuch aufzunehmen.