Plötzlich schallt Jubel über den Tahrir-Platz. Aus Tausenden Kehlen bündeln sich die Schreie, Feuerwerksraketen jagten in den schwülen Nachthimmel. Einige vollführen kurze Freudentänze, andere liegen sich in den Armen, wieder andere dagegen reagieren still und betreten. Hosni Mubarak sei klinisch tot - wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Mena auf dem Kreisverkehr im Herzen der ägyptischen Hauptstadt.

Mehrere zehntausend hatte sich am Abend dort eingefunden, überwiegend Muslimbrüder und Salafisten, um gegen die Auflösung des Parlaments, den Obersten Militärrat und dessen jüngste Selbstermächtigung per Sammeldekret zu protestieren. "Nieder mit der Militärherrschaft", skandierte die Menge. Andere schworen "beim Blut der Märtyrer, wir werden eine neue Revolution machen".

Zahlreiche Eltern hatten ihre Kinder mitgebracht, manche Mütter ihre Neugeborenen auf dem Arm, viele ließen sich die Farben der ägyptischen Flagge auf die Backen malen, andere trugen Fotos von Mohamed Mursi um den Hals, dem wahrscheinlichen Sieger im Präsidentschaftsrennen um die Nachfolge von Hosni Mubarak.

Nach Mitternacht allerdings sahen sich Militärrat und Innenministerium dann genötigt, die Alarmmeldungen zu Mubaraks "klinischem Tod" zunächst einmal zu Recht zu rücken. "Definitiv falsch, alles Unsinn", kanzelte General Said Abbas die Fragesteller ab. Der 84-jährige Ex-Präsident habe einen Herzinfarkt erlitten und ein Blutgerinnsel im Gehirn. Noch in der Nacht sei er per Hubschrauber in das Militärkrankenhaus von Maadi verlegt worden. Mubaraks Zustand sei kritisch, er liege im Koma und werde künstlich beamtet, schob wenig später das Innenministerium nach.

Am Mittwochnachmittag dann gaben die behandelnden Ärzte zunächst einmal Entwarnung. Sie ließen durchsickern, der Ex-Präsident sei nicht in einem tiefen Koma, seine Organe funktionierten. Die nächsten 72 Stunden seien entscheidend, er könne überleben. Und so wächst bei den verunsicherten Bürgern Ägyptens wieder einmal der Verdacht, das ganze nächtliche Drama sei inszeniert worden, um Hosni Mubarak nach 17 Tagen Haft ohne große öffentliche Proteste wieder aus dem Tora-Gefängnis herauszubekommen. Dorthin war er nach dem Urteil "lebenslänglich" eingeliefert, das Haftkrankenhaus zuvor mit einem Millionenaufwand umgebaut worden. "Alles nur ein Medienspektakel, um die Aufmerksamkeit von den neuen Verfassungsartikeln des Militärs abzulenken", meinte eine Demonstrantin.

Militärrat muss gehen

"Wir werden den Tahrir erst wieder verlassen, wenn der Oberste Militärrat ohne Wenn und Aber abgedankt hat." Mohammed Abdel-Hameed ist Lehrer und zusammen mit seinem Sohn an diesem Abend eigens aus der hundert Kilometer entfernten Oase Fayoum angereist. "Man kann doch nicht eine Revolution haben, dann eine Armeeherrschaft und am Ende einen neuen Präsidenten ohne jede Macht", sagte der 48-Jährige.

So wie er, empfinden viele in Ägypten, auch wenn die meisten inzwischen total erschöpft sind. Entsprechend gereizt und überspannt ist die Stimmung auf den Straßen. Die Aktivisten der Demokratiebewegung fürchten, von den Generälen um den ganzen Lohn ihrer Revolution betrogen zu werden. Die Muslimbruderschaft wiederum sieht sich vor einer totalen Konfrontation mit den Militärherrschern und Netzwerken des alten Regimes.

Diese nämlich sehen nun ihre Chance gekommen, endlich mit dem ganzen revolutionären Spuk aufzuräumen und scharen sich fest um den Gegenkandidaten, Ex-Premier und Mubarak-Freund Ahmed Shafiq. Dessen Sprecher beharrte dann auch darauf, "General Shafiq" habe die Wahl mit 51,5 Prozent gewonnen. Die von den Muslimbrüdern vorgelegten Resultate seien "definitiv falsch".

Die Muslimbrüder dagegen verteilten auf einer Pressekonferenz ein ganzes Kompendium, in dem die Kopien der offiziellen Schlussbilanzen aus allen 27 Governoraten nebst Stempel und Unterschrift der zuständigen Richter zusammengeheftet waren. Danach liegt Mursi mit 13.238.298 Stimmen vorn, während Shafiq auf 12.351.184 Stimmen kommt, ein Ergebnis, was ziemlich genau der inoffiziellen Addition der staatlichen Zeitung "Al-Ahram" entspricht. Die Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentenwahl wurden von der Wahlkommission jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben.

Vor Zerreißprobe

Erklärt sie dann Ahmed Shafiq zum nächsten Präsidenten, haben die Kräfte des alten Regimes praktisch überall wieder die Oberhand. Ägypten wird in neue schwere Turbulenzen stürzen, auch Attentate und Gewalttaten radikaler Islamisten wie in den neunziger Jahren sind nicht mehr ausgeschlossen. Wird Mursi neuer Staatschef, steht Ägypten eine schier endlose Zerreißprobe bevor, ein beispiellos zugespitzter Machtkampf zwischen der Muslimbruderschaft und der alten Mubarak-Garde, mit der Armeeführung an der Spitze.