Zum ersten Jahrestag des Sturzes von Tunesiens langjährigem Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali hat die Regierung 9.000 Häftlinge vorzeitig aus der Haft entlassen. Den Gefangenen sei ihre Strafe erlassen worden oder sie seien auf Bewährung freigesetzt worden, erklärte das Justizministerium am Samstag in Tunis. Zudem sei die Todesstrafe von 122 Verurteilten in lebenslange Haft umgewandelt worden.

"Verschwinde"

Zur Feier des Jahrestags versammelten sich auf der symbolträchtigen Bourguiba-Allee im Zentrum der Hauptstadt Tunis mehrere tausend Menschen. "Verschwinde", rief die Menge in Erinnerung an die wichtigste Parole der Proteste, die vor einem Jahr zur Flucht des langjährigen Staatschefs Ben Ali nach Saudi-Arabien geführt hatte. Zugleich forderten sie "Arbeit, Freiheit, Würde" und riefen zur Fortsetzung des Kampfes für soziale Gerechtigkeit auf.

"Wir haben die Revolution gegen die Diktatur gemacht, um unser Recht auf ein würdiges Leben durchzusetzen, nicht um gewissen Opportunisten bei der Verwirklichung ihrer politischen Ambitionen zu helfen", sagte der 33-jährige Salem Zitouni. Andere forderten die Anerkennung der rund 300 "Märtyrer", die während der wochenlangen Proteste getötet worden waren. Tunesiens neuer Präsident Moncef Marzouki hatte am Freitag erklärt, die Verletzten und Toten hätten bisher nicht die ihnen gebührende Anerkennung erfahren.

Selbstverbrennung als Auslöser

Am 14. Jänner 2011 war Ben Ali, der Tunesien mit harter Hand 23 Jahre lang beherrscht hatte, überstürzt ins Exil nach Saudi-Arabien geflohen. Auslöser der Proteste war im Dezember die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid gewesen. Er wollte mit der Tat gegen die Demütigung durch die Behörden und die Beschlagnahmung seines Gemüsestands protestieren. Von Tunesien breiteten sich die Proteste rasch auf andere arabische Staaten aus.